VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 28.11.2023 - 23 K 693/21 A - asyl.net: M32104
https://www.asyl.net/rsdb/m32104
Leitsatz:

Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Zugehörigkeit zur Al-Nusra-Front:

1. Gemäß § 73 Abs. 5 AsylG ist die Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die schutzsuchende Person gemäß § 3 Abs. 2 AsylG von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen wäre. Das ist nach § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 AsylG der Fall, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass die Person den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.

2. Im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen u.a. Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus sowie Anstiftung zu diesen, deren Finanzierung, Vorbereitung und jegliche andere Form der Unterstützung.

3. Die bloße Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation genügt für die Annahme einer Unterstützungshandlung nicht, während rein logistische Unterstützungshandlungen von hinreichendem Gewicht im Vorfeld terroristischer Handlungen den Tatbestand des § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 AsylG erfüllen können. Dabei muss der individuelle Beitrag der Person ein Gewicht erreicht haben, das dem Gewicht der Ausschlussgründe entspricht. In jedem Fall ist eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände vorzunehmen. 

4. Sprechen wesentliche Indizien dafür, dass eine Person eine terroristische Organisation (hier: Al-Nusra-Front) unterstützt hat, an Kampfhandlungen beteiligt und in die Logistik der Organisation eingebunden war, ist sie gemäß § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 AsylG von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen.

5. Dem Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft steht nicht entgegen, dass die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft nicht zur Anklage geführt haben, sondern eingestellt wurden. Das BAMF ist an das Ergebnis strafrechtlicher Ermittlungen nicht gebunden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingseigenschaft, Ausschlussgrund, terroristische Vereinigung, Terrorismus, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, Al-Nusra, Al-Nusra-Front, Haiʾat Tahrir asch-Scham, Syrien,
Normen: AsylG § 73 Abs. 5, AsylG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 2 S. 2, AsylG § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

27 Der Widerruf ist auch materiell rechtmäßig. Nach § 73 Abs. 5 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter anderem zu widerrufen, wenn der Ausländer von der Erteilung nach § 3 Abs. 2 AsylG hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist. Dies ist hier der Fall.

28 Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG nicht Flüchtling, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.

29 Die für einen Ausschluss nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG maßgeblichen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen sind in der Präambel und in den Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen dargelegt und u.a. in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu den Antiterrormaßnahmen verankert, in denen erklärt wird, "dass die Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen" und "dass die wissentliche Finanzierung und Planung terroristischer Handlungen sowie die Anstiftung dazu ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen" (vgl. Erwägungsgrund 22 zur Richtlinie 2004/83/EG). Zu diesen Resolutionen zählt die Resolution 1377 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, aus der hervorgeht, dass nicht nur "Akte des internationalen Terrorismus", sondern auch "die Finanzierung, Planung und Vorbereitung sowie jegliche andere Form der Unterstützung von Akten des internationalen Terrorismus" im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen stehen. [...]

30 Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG ist ein Ausländer auch dann nicht Flüchtling, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er andere zu Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, angestiftet hat oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt hat. Da der Begriff "Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen" nicht auf terroristische Handlungen beschränkt ist, verlangt die Anwendung von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, zu einer terroristischen Handlung angestiftet hat oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt hat. [...] Während die bloße Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation für die Annahme einer Unterstützungshandlung nicht genügt, können rein logistische Unterstützungshandlungen von hinreichendem Gewicht im Vorfeld den Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG erfüllen [...]. Der individuelle Beitrag des Betroffenen muss ein Gewicht erreicht haben, das dem der Ausschlussgründe in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AsylG entspricht [...]. In jedem Einzelfall ist eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände vorzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 31. Januar 2017 – C-573/14 –, juris Rn. 72).

31 Entsprechende Handlungen müssen nicht definitiv erwiesen sein. Für die Überzeugungsbildung des Gerichts reicht es vielmehr aus, dass aus schwerwiegenden Gründen eine entsprechende Annahme gerechtfertigt ist. Ein Beweisstandard, wie er etwa im Strafrecht verlangt wird, ist hierfür nicht erforderlich. Vielmehr ergibt sich aus der Qualifizierung als "schwerwiegend", dass die Anhaltspunkte für die Begehung von erheblichem Gewicht sein müssen. Schwerwiegend sind die Gründe in der Regel dann, wenn klare und glaubhafte Indizien für die Begehung derartiger Handlungen vorliegen [...].

32 Ausgehend von diesen Grundsätzen steht es zur Überzeugung der Kammer fest (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass nach den tatsächlichen Umständen des vorliegenden Einzelfalls schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass der Kläger sich in individueller Verantwortung an Handlungen beteiligte, die im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderliefen, indem er die als terroristisch einzustufende Organisation Jabhat al-Nusra (Al Nusra Front) aktiv unterstützt hat.

33 Die Jabhat al-Nusra wurde Ende 2011 in Syrien gegründet und gehörte zunächst al-Qaida an. Nach ihrer Umbenennung zu Dschabhat Fath asch-Scham schloss sie sich ISIS an. Im Jahr 2013 stufte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Jabhat al-Nusra als Terrororganisation ein. [...]

34 Das Bundesamt hat in seinem Bescheid vom 15. Oktober 2021 nachvollziehbar ausgeführt, dass klare und glaubhafte Indizien dafür vorliegen, dass der Kläger diese terroristische Organisation aktiv unterstützt hat, indem er an Kampfhandlungen beteiligt und in die Logistik der Organisation eingebunden gewesen ist. Dies schließt das Bundesamt aus einer Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere der Quellenbefragung des Zeugen "...", des Ergebnisses der Internetrecherche, der Auswertung der auf den beschlagnahmten Datenträgern befindlichen Bilder, Chats, Hassbotschaften und Märtyrer-Lieder sowie des Umstands, dass der Kläger ein einreisendes Mitglied der Jabhat al-Nusra sehr genau hat benennen können.

35 Wesentliches Indiz ist zunächst die Angabe des Zeugen "..." gegenüber der Polizei ... im Rahmen der Quellenvernehmung im ... 2016, der Kläger habe in Syrien für die Jabhat al-Nusra gekämpft und sei mit dessen Söhnen an Kampfhandlungen in Deir Ezzor, Rakka und Idlib beteiligt gewesen.

36 Diese Angabe steht nicht nur im Einklang mit den auf den beschlagnahmten Datenträgern befindlichen Fotos, auf denen der Kläger in Kampfuniform und mit Waffe sowie vor einem Panzer posierend abgebildet ist, sondern auch mit dem Umstand, dass ein Foto, auf dem der Kläger zu sehen ist, nach den Ermittlungen des Landeskriminalamts Berlin als Erfassungszeit den ... 2013, als die Stadt von Kämpfern der Jabhat al-Nusra und des IS kontrolliert worden ist, aufweist und einen Standort südlich der Stadt Ar-Raqqa verzeichnet.

37 Hierzu passt in einer Gesamtschau, dass das Erscheinungsbild der ... Facebook Freunde des Klägers ausweislich des Internetauswerteberichts des Landeskriminalamts Berlin radikale Tendenzen aufwies und dieses nach Auswertung der beschlagnahmten Datenträger zu dem Ergebnis gelangte, dass bei dem Kläger Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorhanden seien. Insoweit sind unter den auf den Datenträgern befindlichen Bildern etwa eine Abbildung der Jabhat al-Nusra- und der IS-Flagge sowie Screenshots jeweils von einer WhatsApp-Unterhaltung festgestellt worden, in denen eine Art "Aufruf" zum Verüben von Attentaten enthalten gewesen sei sowie Handlungsanleitungen zur Sprengstoffherstellung angesprochen worden seien. Zudem hat sich auf einem der Datenträger ein Video, hinterlegt mit einem Märtyrer-Lied und bestehend aus einer Diashow von Bildern, befunden, die Märtyrer teils mit religiösen Sprüchen abbilden und auf denen auch der Kläger zu erkennen sei. [...]

44 Es steht der Erfüllung des Tatbestands des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht entgegen, dass die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft nicht zur Anklage geführt haben. Zutreffend verweist das Bundesamt darauf, an das Ergebnis der strafrechtlichen Ermittlungen im Rahmen der Entscheidung über einen Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft nicht gebunden zu sein. Eine strafrechtliche Verurteilung ist auch keine Voraussetzung für die Annahme eines Delikts i.S.d. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG (vgl. EuGH, Urteil vom 31. Januar 2017 – C-573/14 –, juris Rn. 54).

45 II. Die Klage ist mit ihrem Hilfsantrag als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) zulässig, aber unbegründet. [...]

46 Jedenfalls greift der Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 AsylG. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen. [...]