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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 28.11.2023 - 23 K 470/21 A - asyl.net: M32103
https://www.asyl.net/rsdb/m32103
Leitsatz:

Kein Schutz für eine Transfrau aus Chile:

1. Transpersonen droht in Chile keine Gruppenverfolgung.

2. Die von der Klägerin erlittene Gewalt führt nicht zur Flüchtlingsanerkennung, weil sie auch kumulativ nicht die erforderliche Intensität für eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 AsylG erreicht und der chilenische Staat gemäß § 3d Abs. 1 AsylG wirksamen Schutz vor Verfolgung bieten kann. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Chile, transsexuell, geschlechtsspezifische Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interner Schutz, interne Fluchtalternative, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3d Abs. 1,
Auszüge:

[...]

24 I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. [...]

30 1. Die Klägerin ist nicht vorverfolgt ausgereist, so dass für sie nicht die tatsächliche Vermutung, dass sich eine vor der Ausreise erfolgte Verfolgungshandlung bei einer Rückkehr nach Chile wiederholen wird, greift.

31 Auch wenn unterstellt wird, dass die geltend gemachte Transidentität für die Klägerin identitätsprägend ist und sie einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zugehört [...], fehlt es bereits an tauglichen Verfolgungshandlungen. Unabhängig davon besteht auch kein objektiver Zusammenhang zwischen den Verfolgungshandlungen und der Ausreise.

32 a) Die von der Klägerin vorgetragenen Vorfälle, die sich individuell gegen sie richteten, weisen – jeder für sich genommen – nicht die gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erforderliche Intensität auf, um als Verfolgungshandlungen gelten zu können. Gravierende und schwerwiegende Verletzungen von Menschenrechten lassen sich dem Vortrag der Klägerin über ihre Erlebnisse vor der Ausreise aus Chile nicht entnehmen.

33 Doch selbst wenn man die erforderliche Intensität einmal unterstellt, fehlt es an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung der gegen die Klägerin gerichteten Handlungen und einem Verfolgungsgrund. Es steht nicht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die mögliche Rache des ehemaligen Ministerialrates, die Attacken der Bande, der Diebstahl sowie die beiden Angriffe im Januar und Mai 2019 an die Transsexualität oder den Aktivismus der Klägerin anknüpften. [...]

34 Unabhängig davon, dass es daher schon an tauglichen Verfolgungshandlungen fehlt, hätte die Klägerin in allen Fällen staatlichen Schutz in Anspruch nehmen können bzw. hat dies in den überwiegenden Fällen auch getan. [...]

35 Im Fall der Bande führte die Anzeige der Klägerin zu einer Ausweisung von zwei Bandenmitgliedern. Die gewalttätigen Übergriffe im Januar und Mai 2019 konnte sie anzeigen; im Fall des Handgemenges am Flughafen erstattete sie sogar auf persönliches Ersuchen des Vorgesetzten der Polizisten Anzeige. Soweit die Klägerin vorträgt, die Polizei habe ihre Anzeigen entweder verspätet oder inhaltlich falsch aufgenommen, etwa statt "Hasskriminalität" einen "Raub" erfasst, steht dies dem wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz im Sinne des § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht entgegen. [...]

36 Die von der Klägerin erlebten Vorfälle und Diskriminierungen sind auch kumuliert nicht hinreichend gravierend. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist. Dabei wären nicht nur körperliche Misshandlungen in den Blick zu nehmen, sondern auch sonstige Verhaltensweisen, die (ohne die physische Integrität zu berühren) in den betreffenden Personen in entwürdigender Weise Ängste, seelische Qualen oder das Gefühl von Minderwertigkeit auslösen [...]. Sie können auch darin bestehen, dass der Zugang zu Bildung, Arbeit, medizinischer Versorgung, Sozialleistungen und Wohnraum erheblich erschwert oder sogar verwehrt wird [...].

37 Bei Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2019 – OVG 3 B 27.17 –, juris Rn. 51) liegt auch unter diesem Gesichtspunkt keine Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor. Es ergibt sich bereits aus dem Vortrag der Klägerin, dass ihr der Zugang zu Bildung, Arbeit, medizinischer Versorgung, Sozialleistungen und Wohnraum zuletzt nicht in hier relevanter Weise erschwert oder sogar verwehrt wurde. So holte sie ihren Schulabschluss in einer Schule für Transpersonen nach, wurde zuletzt im Mai 2019 medizinisch behandelt und hatte die Gelegenheit, als Kassiererin in einem Supermarkt probezuarbeiten. Da sie seit ihrem ca. 26. Lebensjahr bis zu ihrer Ausreise bei ihrer Mutter wohnte, konnte die Klägern auch hinsichtlich ihres Zugangs zum Wohnraum keine Diskriminierung erleben.

38 b) Darüber hinaus liegt hier auch kein Fall einer sogenannten Gruppenverfolgung vor. Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich grundsätzlich auch aus gegen Dritte gerichtete Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das die betroffene Person mit ihnen teilt, und wenn sie sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit, und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb ihre eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist [...]. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt allerdings eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, d.h. die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. [...]

39 Nach diesen Maßstäben tragen die ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse die Annahme einer Gruppenverfolgung von transsexuellen Personen in Chile nicht. Nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen stellt sich die Lage für Transsexuelle in Chile wie folgt dar:

40 Zwar kommt es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen gegenüber LGBTQ-Personen und sogar Tötungen. [...] Demgegenüber hat Chile in der Vergangenheit die LGBTQ-Rechte sukzessive gestärkt. Es ist gesetzlich verboten, dass Personen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung oder Geschlechtsidentität bei der Wohnungssuche, der Beschäftigung und dem Zugang zu staatlichen Dienstleistungen diskriminiert werden. Der Staat setzt diese Gesetze grundsätzlich durch. Es gibt jedoch auch Meldungen, dass die Behörden bei der Anwendung der Antidiskriminierungsgesetze zurückhaltend sind, etwa wenn es darum geht, Angreifer von LGBTQ-Angehörigen wegen Hassverbrechen anzuklagen [...]. 2019 trat in Chile das Gesetz über Geschlechtsidentität in Kraft. Personen ab 18 Jahren können Namen und Geschlecht in amtlichen Dokumenten auf Antrag bei den Behörden ändern. Personen zwischen 14 und 17 Jahren können diese Änderung beim Familiengericht beantragen. Für Personen ab 14 Jahren ist hierfür keine ärztliche Untersuchung erforderlich [...]. Soweit die Klägerin diverse Berichte zu Gewalt an Transpersonen vorträgt, etwa die Ermordung eines 16-jährigen Transgender-Mädchens in der Innenstadt von Santiago de Chile oder die Ermordung einer Transfrau in der Stadt Valparaíso, sowie die Bilanz der MOVILH zitiert, derzufolge im Zeitraum von 2002 bis 2021 56 Morde an Transpersonen verübt worden seien, zeigt dies einerseits, dass es – wie sich aus den bisherigen Erkenntnismitteln ergibt – zu tödlichen Übergriffen gegen Transpersonen kommen kann. Der von der Klägerin eingereichte Beitrag zum Mord an der Transfrau in der Stadt Valparaíso zeigt aber auch, dass der Staat Chile entsprechend reagiert. So wurde der Täter des Mordes schuldig gesprochen – die Staatsanwaltschaft forderte die Verhängung der Höchststrafe von 15 Jahren.

41 Danach ist die Annahme nicht gerechtfertigt, dass Verfolgungshandlungen vorliegen, die auf alle sich in der Heimat der Klägerin aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht, und die nicht mehr nur eine Vielzahl von Einzelfälle darstellen.

42 c) Unabhängig von alledem spricht gegen eine Vorverfolgung auch, dass hier kein objektiver Zusammenhang zwischen den behaupteten Verfolgungshandlungen und der Ausreise der Klägerin besteht [...]. Bereits nach dem eigenen Vortrag der Klägerin in ihrer Anhörung verließ sie Chile, um in Deutschland an einem LGBTQ-Treffen teilzunehmen. In einem öffentlich verfügbaren Video (x..., zuletzt aufgerufen am 28. November 2023), das in der mündlichen Verhandlung abgespielt wurde, erklärte die Klägerin zudem, dass sie Chile verließ, um in Deutschland zu den Rechten von Transsexuellen zu recherchieren. Sie hatte jedoch vor, nach Chile zurückzukehren. Erst mit Ausbruch der sozialen Unruhen in Chile im Oktober 2019 entschloss sie sich einen Asylantrag zu stellen. [...]

44 2. Der Klägerin droht auch bei einer Rückkehr nach Chile nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung.

45 Ob eine Wiederholung der von der Klägerin vorgetragenen Vorfälle tatsächlich drohen könnte, ist hier nicht entscheidungserheblich, da es sich bei diesen – wie oben ausgeführt – nicht um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung gehandelt hat. [...]

49 3. Unabhängig von alledem – eine Vorverfolgung oder eine drohende Verfolgung unterstellt – könnte sich die Klägerin etwaigen zukünftigen Übergriffen durch die Inanspruchnahme einer inländischen Fluchtalternative entziehen. [...]

53 Die Kammer stellt nicht in Abrede, dass die Klägerin aufgrund ihrer Transsexualität auf Vorbehalte oder auch Ablehnung seitens der Arbeitgeber gestoßen ist und dass dies auch wieder der Fall sein könnte. Möglicherweise wird sie es daher schwerer haben, eine Arbeit zu finden. Die von der Klägerin behauptete Aussichtslosigkeit der Arbeitssuche sieht die Kammer jedoch nicht – zumal die Angaben der Klägerin zu Art und Umfang ihrer bisherigen Arbeitssuche gezeigt haben, dass sie sich vor ihrer Ausreise weder dauerhaft noch ernsthaft um eine Arbeitsstelle bemüht hat. [...]

55 Selbst wenn es der Klägerin nicht gelingen sollte, einer entsprechenden beruflichen Tätigkeit nachzugehen oder ihren vollständigen Lebensunterhalt durch eine eigene Berufstätigkeit zu erwirtschaften, ist zu erwarten, dass sie von ihrer Familie eine das wirtschaftliche Existenzminimum sichernde Unterstützung erhalten wird, insbesondere durch finanzielle Zuwendungen. [...]