Fehlende Lebensunterhaltssicherung steht Geschwisternachzug je nach Einzelfall nicht entgegen:
1. Von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist abzuweichen, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen oder wenn aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GR-Charta eine Abweichung geboten ist.
2. Die Visumserteilung zum Geschwisternachzug ist gemäß Art. 6 GG, Art. 8 EMRK geboten, um die familiäre Gemeinschaft der Kinder mit ihren Eltern aufrechtzuerhalten. Die familiäre Gemeinschaft kann aufgrund des dem stammberechtigten Kind zuerkannten internationalen Schutzes grundsätzlich nur im Bundesgebiet gelebt werden. Auch eine nur vorübergehende Trennung der Geschwister von ihren Eltern kommt mit Blick auf ihr Alter – sie sind elf und eineinhalb Jahre alt – und ihrem Aufenthalt außerhalb des Herkunftslands (Syriens), nämlich in der Türkei, nicht in Betracht. Denn eine solche Trennung wäre mit dem Kindeswohl unvereinbar.
3. Etwas anderes kann gelten, wenn die Geschwister bereits älter sind und in ihrem Herkunftsland leben.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1 Die Beschwerde, mit der sich die Antragsgegnerin gegen die erstinstanzliche Verpflichtung zur Visumerteilung an die aus Syrien stammenden Antragsteller wendet, damit sie gemeinsam mit ihren Eltern zu dem derzeit noch minderjährigen, subsidiär schutzberechtigten Bruder in das Bundesgebiet einreisen können, ist nicht begründet. [...]
2 Ohne Erfolg macht die Antragsgegnerin geltend, das Verwaltungsgericht habe fehlerhaft von der Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abgesehen, denn es liege hier kein atypischer Fall vor.
3 Ein Ausnahmefall, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt, ist zu bejahen, wenn besondere, atypische Umstände bestehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh eine Abweichung geboten ist [...]. Die Feststellung eines derartigen Ausnahmefalles beruht auf einer wertenden Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls [...]. Es handelt sich nicht um eine Ermessensfrage, sondern um ein gerichtlich voll überprüfbares Tatbestandsmerkmal [...].
4 Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass ihnen die fehlende Lebensunterhaltssicherung im Hinblick auf Art. 6 Abs.1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht entgegengehalten werden kann. Die Visumerteilung ist hier geboten, um die familiäre Gemeinschaft mit ihren Eltern als Kernfamilie aufrechtzuerhalten, denn das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin – von der Beschwerde unbeanstandet – im Wege vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, den Eltern ein Visum nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Nachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden Sohn - dem Bruder der Antragsteller - zu erteilen. Diese Lebensgemeinschaft kann infolge des dem Bruder zuerkannten internationalen Schutzes grundsätzlich nur im Bundesgebiet geführt werden [...]. Eine auch nur vorübergehende Trennung der Antragsteller von ihren Eltern kommt im Hinblick auf ihr Alter – sie sind gegenwärtig elf und eineinhalb Jahre alt – und den Aufenthalt außerhalb Syriens, nämlich in der Türkei, nicht in Betracht, weil dies mit dem Kindeswohl unvereinbar wäre.
5 Dies gilt umso mehr, als die Dauer einer Trennung - etwa bis zu einer den Nachzug uneingeschränkt rechtfertigenden Zuerkennung internationalen Schutzes für die Eltern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder bis zu einer Erzielung eigener Einkünfte der Eltern durch Erwerbstätigkeit - nicht sicher zu prognostizieren ist. Die Antragsteller können nicht für eine ungewisse Zeit in Istanbul ohne Eltern bleiben. Es ist den Eltern ferner nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist, weil der Nachzugsanspruch des im Ausland verbleibenden Elternteils mit Ablauf des 31. Dezember 2023 untergeht [...] und ein Nachzugsanspruch der restlichen Kernfamilie in zeitlicher Hinsicht ebenfalls ungewiss ist.
6 Nach alledem unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von denjenigen Umständen, die dem von der Antragsgegnerin angeführten Urteil des Senats vom 6. Januar 2023 - OVG 3 B 2/21 - zugrunde lagen, weil es dort um nicht außerhalb des Herkunftslandes Syrien lebende Geschwister im Alter von 18, 15 und 12 Jahren ging. [...]