VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.12.2023 - 11 S 1926/23 - asyl.net: M32098
https://www.asyl.net/rsdb/m32098
Leitsatz:

Zum Verhältnis von Ermessenserwägungen und Einhaltung von aufenthaltsrechtlichen Vorschriften:

1. Bestimmte Umstände, wie beispielsweise eine mit einem deutschen Staatsangehörigen geführte Ehe, ein gemeinsamer Kinderwunsch, die Sicherung des Lebensunterhalts des Ehepaares sowie die Bereitschaft, sich sprachlich und beruflich in Deutschland zu integrieren, sind zwar für eine Ermessensentscheidung relevant, aber nicht geeignet, die Beachtung von Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländer*innen automatisch zurücktreten zu lassen.

2. Der deutsche Staat ist nicht verpflichtet, durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels Rahmenbedingungen zu schaffen, die es auch straffällig gewordenen Ausländerinnen mit bislang ungesichertem Aufenthalt ermöglichen, eine angestrebte ärztliche Behandlung zur Erfüllung eines Kinderwunschs in Deutschland durchzuführen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, medizinische Versorgung, Ausländerstrafrecht, Verfahrensduldung, Chancen-Aufenthaltsrecht,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 3 Satz 2, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 104c, GG Art. 6, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

8 b) Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anordnungsanspruch gegen die Antragsgegnerin zusteht.

9 aa) Die Antragstellerin begehrt gerichtlichen Schutz vor einer ihr drohenden Abschiebung aus dem Bundesgebiet. Ihr Eilrechtsschutzbegehren zielt der Sache nach auf eine vorläufige Aussetzung ihrer Abschiebung (Duldung). Die Zuständigkeit für die Durchführung der Abschiebung der Antragstellerin liegt allerdings nicht bei der Antragsgegnerin, sondern beim Regierungspräsidium Karlsruhe (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 2 AAZuVO). Dasselbe gilt für die Entscheidung über die Frage, ob der Antragstellerin eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG (§ 8 Abs. 3 Nr. 1 AAZuVO) erteilt wird. In Konsequenz kann die Antragstellerin im vorliegenden - allein gegen die Antragsgegnerin gerichteten - Verfahren weder mit Einwendungen gegen das Vorliegen der allgemeinen Abschiebungsvoraussetzungen durchdringen noch mit Vortrag zum Vorliegen von Duldungsgründen nach § 60a Abs. 2 AufenthG.

10 Ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin könnte vielmehr nur auf eine sogenannte Verfahrensduldung gerichtet sein. Diese leitet sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ab und dient der Sicherung des Verbleibs eines Ausländers im Bundesgebiet bis zum bestandskräftigen Abschluss eines von ihm bei der Ausländerbehörde betriebenen Titelerteilungsverfahrens. Der Anordnungsanspruch richtet sich damit gegen den Träger derjenigen Ausländerbehörde, die über die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zu entscheiden hat. Im vorliegenden Fall ist dies die Antragsgegnerin als Trägerin der für die Antragstellerin örtlich zuständigen unteren Ausländerbehörde (vgl. §§ 3, 4 AAZuVO). [...]

12 bb) Im vorliegenden Zusammenhang könnte sich ein Anspruch der Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin auf eine Verfahrensduldung allein auf das von der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin aktuell noch betriebene Titelerteilungsverfahren beziehen. Dieses ist - sachdienlich ausgelegt - auf die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels gerichtet. Nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Prüfung steht der Antragstellerin mit Blick auf dieses noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Verfahren aber kein Anspruch auf eine Verfahrensduldung gegen die Antragsgegnerin zu. Die aufgezeigten Voraussetzungen einer solchen Duldung sind nach Aktenlage nicht erfüllt. [...]

18 (b) Soweit § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG der Antragsgegnerin die Möglichkeit eröffnet, der Antragstellerin im Ermessenswege eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, genügt dies als Grundlage für eine Verfahrensduldung ebenfalls nicht. Denn mit der wiederholten erheblichen Straffälligkeit der Antragstellerin im Bundesgebiet, die insbesondere auf eine Bereitschaft der Antragstellerin hindeutet, sich über die in Deutschland geltenden Vorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern hinwegzusetzen, bestehen im vorliegenden Fall tragfähige Ermessensgesichtspunkte, die es rechtfertigen können, das behördliche Ermessen auch zum Nachteil der Antragstellerin auszuüben. Bereits dies schließt - wie gezeigt - eine Verfahrensduldung aus.

19 Einige der von der Antragstellerin im Eilrechtsschutzverfahren dargelegten Umstände mögen es zwar auch rechtfertigen, eine behördliche Ermessensentscheidung zu ihren Gunsten zu treffen. Dies betrifft etwa die von der Antragstellerin mit einem deutschen Staatsangehörigen geführte Ehe, der gemeinsame Kinderwunsch und die Sicherung des Lebensunterhalts des Ehepaares sowie die mitgeteilte Bereitschaft der Antragstellerin, sich sprachlich und beruflich in Deutschland zu integrieren. Keinem der genannten Umstände kommt aus unions-, konventions- oder verfassungsrechtlichen Gründen jedoch solches Gewicht zu, dass das berechtigte Interesse des Gemeinwesens an der Beachtung seiner Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern dagegen automatisch zurücktreten müsste. Nichts anderes gilt für das ebenfalls berechtigte Interesse des Gemeinwesens, den Aufenthalt erheblich und wiederholt straffällig gewordener Ausländer im Bundesgebiet nicht durch Erteilung von Aufenthaltstiteln zu verfestigen.

20 Vor diesem Hintergrund bedarf es im vorliegenden Verfahren auch keiner abschließenden Klärung, ob und - wenn ja - mit welcher Erfolgsaussicht die von der Antragstellerin im Januar 2024 angestrebte ärztliche Behandlung dazu beitragen kann, den Kinderwunsch der Antragstellerin zu erfüllen. Ebenso wenig bedarf es der Klärung, ob sich der Stress, der sich für die Antragstellerin aus ihrer aktuell ungesicherten Aufenthaltssituation ergibt, als für dieses Anliegen abträglich erweist. Außerdem ist nicht abschließend zu prüfen, ob der Antragstellerin und ihrem Ehemann die Möglichkeit eröffnet wäre, sich im Ausland oder zu einem späteren Zeitpunkt mit Aussicht auf Erfolg um die Erfüllung ihres Kinderwunsches zu kümmern. Dabei verkennt der Senat nicht, dass ein Ehepaar einem bestehenden Kinderwunsch mit guten Gründen besonderes Gewicht beimessen kann. Er sieht auch, dass sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 8 Abs. 1 EMRK in Bezug auf einen ernstlich erlebten Kinderwunsch verfassungs- und konventionsrechtliche Schutzwirkungen ergeben mögen. Aus den genannten Vorschriften lässt sich aber nicht ableiten, dass der deutsche Staat verpflichtet wäre, diesem Interesse zwingend Vorrang vor beachtlichen einwanderungs- sowie sonstigen sicherheits- und ordnungspolitischen Interessen des Gemeinwesens einzuräumen. Insbesondere ist der deutsche Staat nicht verpflichtet, aktiv Rahmenbedingungen zu schaffen, die es auch straffällig gewordenen Ausländerinnen mit bislang ungesichertem Aufenthalt ermöglichen, eine angestrebte ärztliche Behandlung zur Erfüllung eines Kinderwunschs in Deutschland auf der Basis eines durch Aufenthaltstitel gesicherten Aufenthalts durchzuführen. [...]