VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 20.10.2023 - 1 K 234/21.A - asyl.net: M32086
https://www.asyl.net/rsdb/m32086
Leitsatz:

Aufhebung Unzulässigkeitsentscheidung hinsichtlich Italiens für anerkannte, chronisch erkrankte Frau:

1. Die Klägerin, die über kein soziales Umfeld in Italien verfügt und an einer therapiebedürftigen Erkrankung leidet, würde in absehbarer Zeit keine menschenwürdige Unterkunft in Italien finden, sondern wäre über einen längeren Zeitraum obdachlos. Insbesondere kann sie nicht auf "informelle Möglichkeiten" der Unterkunft wie bspw. besetzte oder leerstehende Häuser verwiesen werden, weil in solchen meist unzumutbare Zustände herrschen.

2. Sie würde angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Italien, der gesamtwirtschaftlichen Lage, der fehlenden Sprachkenntnisse und dem Fehlen eines sozialen Netzwerks auch keine legale Arbeit in Italien finden können. Sie ist nicht auf irreguläre Arbeit (auch: "Schwarzarbeit") zu verweisen, da diese in Italien verboten ist.

3. Sie hätte auch keinen ausreichenden Zugang zu staatlichen Sozialleistungen und ausreichender medizinischer Versorgung. Denn viele Gesundheitsleistungen sind an den Wohnsitz gebunden, sodass die oben beschriebenen Probleme, eine Unterkunft zu finden, die Verfügbarkeit medizinischer Versorgung einschränken. Im Übrigen schränken lange Wartezeiten sowie fehlende Sprachkenntnisse den Zugang zur Gesundheitsversorgung erheblich ein.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht z.B. VGH Bayern, Beschluss vom 27.09.2023 - 24 B 22.30953 - asyl.net: M31862)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, besonders schutzbedürftig, Obdachlosigkeit, Existenzgrundlage, medizinische Versorgung, Schattenwirtschaft, irreguläre Arbeit, Erkrankung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Die Klägerin, die in Italien subsidiären Schutz erhalten hat, hat ihren Asylantrag in Deutschland aber schon am 14. Februar 2014 gestellt. Vor dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge dürfen aufgrund der Übergangsregelung in Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU nicht allein deshalb als unzulässig behandelt werden, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 2015 – 1 B 41 /15 – juris Rn. 11). [...]

2. Unabhängig hiervon ist die auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung im vorliegenden Einzelfall auch aus weiteren Gründen mit Unionsrecht nicht vereinbar. [...]

Von diesen Maßstäben ausgehend kann der Asylantrag vorliegend nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts für den Fall ihrer Rückkehr nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in Italien in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können [...].

Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Klägerin, die in Italien über kein soziales Umfeld verfügt und bei der eine therapiebedürftige Erkrankung vorliegt, in absehbarer Zeit keine menschenwürdige Unterkunft finden, sondern über einen längeren Zeitraum obdachlos sein und keine Arbeit finden wird sowie im Falle notwendiger medizinischer Versorgung diese nicht ausreichend in Anspruch nehmen könnte. [...]

Auch auf dem übrigen Wohnungsmarkt haben anerkannt Schutzberechtigte derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit, eine Wohnung zu finden (vgl. BFA, Länderinformation Italien, Juli 2022, S. 20). [...]

Die Klägerin kann auch nicht auf "informelle Möglichkeiten" der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden. Ein mit Art. 4 GRCh unvereinbarer Zustand der Verelendung der Klägerin ließe sich damit wahrscheinlich nicht vermeiden, weil nach einhelliger Erkenntnislage in den genannten Gebäuden meist unzumutbare Zustände herrschen [...]. Im Übrigen wäre ein Aufenthalt in solchen Gebäuden auch illegal [...].

Es ist ferner davon auszugehen, dass für die Klägerin keine Möglichkeit bestünde, sich durch Arbeit eine Existenzgrundlage zu schaffen. In Italien haben anerkannte Flüchtlinge und Personen mit subsidiärem Schutzstatus zwar in rechtlicher Hinsicht Zugang zum Arbeitsmarkt. Jedoch ist es für die Klägerin in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit in Italien und der gesamtwirtschaftlichen Lage nicht wahrscheinlich, dass sie eine legale Arbeit finden wird [...]. Im Fall der Klägerin liegen Umstände vor, die den Zugang zum Arbeitsmarkt zusätzlich erschweren, wie die mangelnde Beherrschung der italienischen Sprache und das Fehlen eines sozialen Netzwerkes. Es ist daher beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Italien keine Arbeit finden würde, die es ihr erlaubte, sich mit den für ihren Lebensunterhalt unabdingbar notwendigen Mitteln zu versorgen. Ob die Klägerin in Italien eine Beschäftigung im Bereich der sog. Schattenwirtschaft finden könnte, kann offenbleiben. Denn es verbietet sich von vornherein, anerkannte Schutzberechtigte - wie die Klägerin - auf die Möglichkeit zu verweisen, in Italien zur Sicherung des Existenzminimums - verbotene - Schwarzarbeit aufzunehmen.

Die Klägerin hat im Fall seiner Rückkehr nach Italien auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, mit denen sie dort sein Existenzminimum sichern könnte. Zwar haben anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich Zugang zum so genannten Bürgergeld ("reddito di cittadinanza"). Dieses Bürgergeld, das auch einen Mietzuschuss beinhaltet, erhalten Ausländer, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzen, erst, wenn sie seit zehn Jahren ihren Wohnsitz in Italien haben [...].

Im Fall einer Rückkehr nach Italien bestünde für die Klägerin voraussichtlich auch kein tatsächlicher Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung. Zwar haben anerkannt Schutzberechtigte unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb eines Unterkunftszentrums leben, einen Anspruch auf eine kostenfreie Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall sowie auf eine Präventivbehandlung zur Wahrung der individuellen und öffentlichen Gesundheit. Für die – über eine Notfallversorgung hinausgehende – Behandlung ist aber eine Registrierung bei dem nationalen Gesundheitsdienst und die Ausstellung einer Gesundheitskarte erforderlich [...]. Die Erneuerung der Gesundheitskarte für Schutzberechtigte hängt von der Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis ab, die bei der Klägerin nur bis zum 3. November 2016 gültig war. Viele Gesundheitsleistungen sind an den Wohnsitz gebunden, sodass sich die oben aufgezeigten Schwierigkeiten bezüglich der Verfügbarkeit von Unterkünften für Schutzberechtigte auch auf den Zugang zu medizinischer Versorgung auswirken [...]. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten schränken lange Wartezeiten sowie fehlende Sprachkenntnisse den Zugang zur Gesundheitsversorgung erheblich ein [...].

Im Rahmen der tatsächlichen Würdigung, ob im Fall einer Rückkehr der Klägerin nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK droht, sind schließlich auch die jüngsten politischen Entwicklungen unter der Regierung Meloni seit Dezember 2022 zu berücksichtigen [...]. Italien hat im Dezember 2022 einen Aufnahmestopp in Bezug auf Dublin-Rückkehrer erklärt, weil es keine Plätze im Aufnahmesystem gebe [...]. Im Frühjahr 2023 hat die italienische Regierung wegen der hohen Flüchtlingszahlen den Ausnahmezustand erklärt [...]. Seit Dezember 2022 haben sich somit die systemischen Schwachstellen des italienischen Aufnahmesystems und die allgemeine politische Lage für Flüchtlinge in Italien weiter verschärft.

Bei einer zusammenfassenden Bewertung der aktuellen Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass die Gleichgültigkeit der Behörden Italiens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folge hätte, dass sich die Klägerin, die im Fall einer Rückkehr vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig wäre, in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlauben würde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden. [...]