OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 09.10.2023 - 6 Bf 178/22 - asyl.net: M32068
https://www.asyl.net/rsdb/m32068
Leitsatz:

Kurzfristige Aus- und Wiedereinreise in anderen Schengenstaat schließt Inanspruchnahme aus Verpflichtungserklärung nicht aus:

"1. Eine gemäß dem bundeseinheitlichen Formular abgegebene Verpflichtungserklärung ist nicht entsprechend §§ 133, 157 BGB dahingehend auszulegen, dass eine zum Wegfall der Haftung führende "Beendigung des Aufenthalts" der bzw. des Begünstigten vorliegt, wenn diese bzw. dieser kurzzeitig in einen anderen Schengen-Staat aus- und von dort wieder nach Deutschland einreist (Rn. 43).

2. Eine Vorverlegung des Endes der Zahlungsverpflichtung von der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck auf den Zeitpunkt eines "Hineinwachsens in eine Anspruchsposition", auf den Zeitpunkt des Entstehens des materiellen Erteilungsanspruchs oder auf den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist rechtlich nicht geboten (Rn. 50).

3. Voraussetzung für die Erstattung nach § 68 Abs. 1 AufenthG (juris: AufenhG 2004) ist, dass die geleisteten Aufwendungen zu Recht erbracht worden sind (Rn. 53).

4. Der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung ist die objektive und nicht lediglich die subjektiv der Behörde bekannte Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen (Rn. 54).

5. Die Beweislast ist dabei differenziert zu verteilen: Die öffentliche Stelle trägt die Beweislast dafür, dass die Leistungsgewährung auf der im damaligen Entscheidungszeitpunkt bekannten Tatsachengrundlage nach Grund und Höhe rechtmäßig war. Beruft sich ein auf die Erstattung öffentlicher Leistungen in Anspruch genommener Verpflichteter hingegen auf die Rechtswidrigkeit der erbrachten Leistungen, die auf unzutreffende oder unvollständige Angaben der von der Verpflichtungserklärung begünstigten Person zurückzuführen ist, trägt insoweit er die Beweislast (Rn. 56).

6. Eine Beweislastumkehr kann im Übrigen auch unter dem Gesichtspunkt der Beweisvereitelung bzw. des treuwidrigen Verhaltens anzunehmen sein, wenn der Verpflichtete der Verpflichtungserklärung davon Kenntnis hatte, dass die davon begünstigte Person Leistungen zur Lebensunterhaltssicherung trotz fehlender Bedürftigkeit in Anspruch nimmt, er es aber vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, die die fehlende Bedürftigkeit begründenden Umstände der leistungsgewährenden Stelle, der diese Umstände nicht bekannt waren, zeitnah mitzuteilen (Rn. 59)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Ausreise, Beweislast,
Normen: AufenthG § 68 Abs. 1, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 4
Auszüge:

[...]

48 Die Verpflichtungserklärung ist zudem nicht entsprechend §§ 133, 157 BGB dahingehend auszulegen, dass eine zum Wegfall der Haftung führende "Beendigung des Aufenthalts" der Begünstigten vorliegt, wenn diese kurzzeitig in einen anderen Schengen-Staat aus- und von dort wieder einreist. Dies ist auch nicht unklar (anders im Falle einer mehrere Monate nach der Ausreise sowie Durchführung eines Asylverfahrens erfolgten unerlaubten Wiedereinreise: VGH Mannheim, Beschl. v. 11.1.2022, 11 S 1024/20, InfAuslR 2022, 104, juris Rn. 9 f.). Bei einer Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass der Aufenthalt bei einer kurzzeitigen - etwa nur zum Zwecke einer Eheschließung erfolgenden - Ausreise in einen anderen Schengen-Staat nicht beendet ist. Im Hinblick auf den Zweck der Verpflichtungserklärung, zu gewährleisten, dass der Ausländer die für seinen ihm nach Einreise aufgrund des Visums möglichen Aufenthalt im Bundesgebiet notwendigen finanziellen Mittel nachweisen kann bzw. ihm diese zur Verfügung stehen und insoweit eine finanzielle Belastung der öffentlichen Stellen der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden, setzt eine "Beendigung des Aufenthalts" vielmehr eine dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunkts in das Ausland voraus. Es ist offensichtlich, dass die mit dem Institut der Verpflichtungserklärung bezweckte Vermeidung der finanziellen Belastung des Staates durch die Einreise und den Aufenthalt des betroffenen Ausländers (s. BVerwG, Urt. v. 26.1.2017, 1 C 10.16, BVerwGE 157, 208, juris Rn. 32) andernfalls im Schengen-Raum, in dem systematische Personengrenzkontrollen im Regelfall nicht stattfinden, problemlos unterlaufen werden könnte.

49 cc) Die Wirkungen der Verpflichtungserklärung sind nicht bereits mit der Geburt eines deutschen Kindes durch Frau ... vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erloschen.

50 Da die Verpflichtungserklärung während ihres dreijährigen Geltungszeitraumes bis zur Beendigung des Aufenthalts oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck Geltung entfaltete, stand die Geburt eines deutschen Kindes durch Frau ... am ... 2015 der Fortgeltung der Wirkungen der Verpflichtungserklärung bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 2. Oktober 2015 nicht entgegen. Eine Vorverlegung des Endes der Zahlungsverpflichtung etwa bereits auf den Zeitpunkt eines "Hineinwachsens in eine Anspruchsposition", auf den Zeitpunkt des Entstehens des materiellen Erteilungsanspruchs oder auf den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist rechtlich nicht geboten [...]. Auch bei dem Vorliegen einer sog. "unbedingten Anspruchsposition" ist eine solche von dem Ausländer zunächst geltend zu machen, sind die (etwaigen sonstigen) Anspruchsvoraussetzungen sodann von der zuständigen Ausländerbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zu prüfen und erfolgt schließlich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - jedenfalls in der Regel - erst zu dem Zeitpunkt des entsprechenden stattgebenden Bescheids. [...]

51 Soweit der Kläger darauf verweist, es entziehe sich seinem Einfluss und damit auch seinem Verantwortungsbereich, dass die Aufenthaltserlaubnis nicht rückwirkend auf den Tag der Geburt erteilt worden sei, rechtfertigt dies ein anderes Ergebnis nicht. Der aufgrund einer Verpflichtungserklärung Verpflichtete hat insoweit die im Verhältnis zwischen der Begünstigten der Verpflichtungserklärung und der Ausländerbehörde getroffenen Regelungen hinzunehmen. [...]

52 c) Ohne Erfolg wendet sich der Kläger gegen die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten für Frau ... nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erbrachten Leistungen.

53 aa) Voraussetzung für die Erstattung nach § 68 Abs. 1 AufenthG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der erkennende Senat folgt, dass die geleisteten Aufwendungen zu Recht erbracht worden sind. Ein Verpflichteter hat nicht damit zu rechnen, Leistungen erstatten zu müssen, die über den gesetzlichen oder durch ermessensleitende Verwaltungsvorschriften gesetzten Rahmen hinausgehen. Umgekehrt kann auch die öffentliche Stelle nicht erwarten, unrechtmäßig erbrachte Leistungen von dritter Stelle erstattet zu erhalten. [...]

54 (1) Ausgehend von dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Überzeugung des Senats der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die objektive und nicht lediglich die subjektiv der Behörde bekannte Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen.

55 Dies entspricht allgemeinen Grundsätzen und dient der umfassenden Verwirklichung der verfassungsrechtlich gebotenen Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht als Teil des
Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG [...].

56 (2) Was die Beweislastverteilung angeht, ergeben sich aus dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG keine Anhaltspunkte, da die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung als Voraussetzung der Erstattungspflicht dort nicht ausdrücklich genannt ist, sondern danach vielmehr "sämtliche öffentlichen Mittel […], die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum sowie der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden" zu erstatten sind. Eine Auslegung nach der gegenseitigen Interessenlage (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 1 C 33.97, BVerwGE 108, 1, juris Rn. 55) und dem Sinn und Zweck der Verpflichtungserklärung gebietet jedoch, die Beweislast im Einklang mit den allgemeinen Regeln, wonach die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen geht, der hieraus für sich günstige Rechtsfolgen ableiten will (s. etwa BVerwG, Beschl. v. 26.6.2006, 8 B 4.06, ZOV 2006, 310, juris Rn. 8; Urt. v. 30.11.2000, 7 C 87.99, Buchholz 428 § 4 Abs 2 VermG Nr 12, juris Rn. 12), differenziert zu verteilen:

57 (a) Die öffentliche Stelle trägt die Beweislast dafür, dass die Leistungsgewährung auf der im damaligen Entscheidungszeitpunkt bekannten Tatsachengrundlage nach Grund und Höhe rechtmäßig war. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass der aufgrund einer Verpflichtungserklärung Verpflichtete in das Rechtsverhältnis zwischen öffentlicher Stelle und Leistungsempfänger rechtlich nicht einbezogen ist. [...]

58 (b) Beruft sich ein auf die Erstattung öffentlicher Leistungen in Anspruch genommener Verpflichteter hingegen auf die Rechtswidrigkeit der erbrachten Leistungen, die auf unzutreffende oder unvollständige Angaben der von der Verpflichtungserklärung begünstigten Person zurückzuführen ist, trägt insoweit er die Beweislast. [...]

59 Selbst wenn die Beweislast auch in diesen Fällen bei der Beklagten läge, könnte jedenfalls dann unter dem Gesichtspunkt der Beweisvereitelung [...] bzw. des treuwidrigen Verhaltens eine Beweislastumkehr anzunehmen sein [...], wenn der Verpflichtete der Verpflichtungserklärung davon Kenntnis hatte, dass die davon begünstigte Person Leistungen zur Lebensunterhaltssicherung trotz fehlender Bedürftigkeit in Anspruch nimmt, er es aber vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, die die fehlende Bedürftigkeit begründenden Umstände der leistungsgewährenden Stelle, der diese Umstände nicht bekannt waren, zeitnah mitzuteilen. Denn in einem solchen Fall nimmt der Verpflichtete der öffentlichen Stelle die Möglichkeit, ihr Handeln zeitnah an die neue Erkenntnislage anzupassen, weitere Ermittlungen anzustellen und die Leistungen ggf. zeitnah zurückzufordern und/oder nicht weiter zu gewähren. [...]

60 bb) Gemessen an diesen Vorgaben wendet sich der Kläger ohne Erfolg gegen die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung für Frau ...

61 (1) Auf der im damaligen Entscheidungszeitpunkt der leistungsgewährenden Stelle bekannten Tatsachengrundlage hat diese Frau ... dem Grunde und der Höhe nach zutreffend Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bewilligt und ausbezahlt. [...]