VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 15.11.2023 - 10 A 2641/23 - asyl.net: M32064
https://www.asyl.net/rsdb/m32064
Leitsatz:

Öffentliche Zustellung setzt vorherige Ermittlungen zum Aufenthaltsort voraus:

1. Gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 VwZG kann die Zustellung eines Bescheides (hier: Widerrufsbescheid) durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort der betroffenen Person unbekannt und eine Zustellung an eine zustellungsbevollmächtigte Person nicht möglich ist.

2. Hierfür ist es nicht bereits ausreichend, dass der Behörde der Aufenthaltsort der betroffenen Person unbekannt ist oder sie als unbekannt verzogen geführt wird. Aufgrund der einschneidenden Rechtsfolge, dass der Bescheid gemäß § 10 Abs. 2 S. 6 VwZG als zugestellt gilt und der Anspruch auf rechtliches Gehör betroffen ist, muss die Behörde zunächst gründliche und sachdienliche Bemühungen anstellen, um den aktuellen Aufenthaltsort zu ermitteln (hier: Kontaktaufnahme zum zuvor beauftragten Rechtsanwalt und Familienangehörigen, Kontaktaufnahme zu betroffener Person per in der Akte der Ausländerbehörde befindlichen E-Mail-Adresse).

3. Es kann dahinstehen, ob der Widerrufsbescheid bereits deshalb aufzuheben ist, weil das Anhörungsschreiben zum beabsichtigten Widerruf wie der darauf folgende Bescheid nur öffentlich zugestellt wurde. Denn zumindest liegen Gründe für einen Widerruf nicht vor. Insbesondere ist der Umstand, dass die Person "unbekannt verzogen" war, kein Grund, die Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Widerruf, Bescheid, Zustellung, öffentliche Zustellung, E-Mail, Widerrufsverfahren, Widerrufsgrund, unbekannt verzogen, Rechtsanwalt,
Normen: VwZG § 10 Abs. 1 Nr. 1, VwZG § 10 Abs. 2 S. 6, AsylG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylG § 73b Abs. 6, AsylG § 73b Abs. 7 S. S. 3
Auszüge:

[...]

19 Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig (dazu 1.) und begründet (dazu 2.). [...]

21 Mit Einreichung der Klageschrift am 25. Mai 2023 ist die Klage innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG erhoben worden. Denn diese begann mit Ablauf des 11. Mai 2023 als dem Tag, an dem dem jetzigen Prozessbevollmächtigten der Bescheid per E-Mail tatsächlich zugegangen ist (§ 8 Satz 1 Halbsatz 1 VwZG) und endete daher (erst) am 25. Mai 2023 (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB).

22 Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt ein früheres Ende der Klagefrist nicht in Betracht. Die Bekanntgabefiktion des § 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG ist nicht anwendbar, weil die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG nicht vorlagen. Nach dieser Vorschrift kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Daran fehlt es hier. Zwar ist der Beklagten im Ausgangspunkt zuzugeben, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Verfügung als "unbekannt verzogen" geführt wurde. Dies allein reicht jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts [Urt. v. 18.4.1997, 8 C 43/95, juris Rn. 18 f. (Hervorhebung durch Unterstreichen nicht im Original); vgl. auch OVG Hamburg, Urt. v. 25.9.1997, Bf I 5/97, juris Rn. 36], der sich der Einzelrichter anschließt, nicht aus:

23 "Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist zu berücksichtigen, daß die Zustellungsvorschriften insoweit der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dienen, als sie gewährleisten sollen, daß der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Dies gilt mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG nicht nur für Zustellungen im gerichtlichen Verfahren (vgl. […]), sondern auch für Zustellungen im Verwaltungsverfahren, in dem der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gleichfalls kraft Verfassungsrechts zu beachten ist ([…]). Die Erfüllung der Zustellungsvoraussetzungen des § 15 VwZG [nunmehr § 10 VwzG] gewinnt besondere Bedeutung, weil das öffentlich ausgehängte Schriftstück nach dem Ablauf einer bestimmten Frist als zugestellt "gilt" oder "anzusehen" ist (§ 15 Abs. 3 Satz 1, 2 VwZG), dem Empfänger also nicht übergeben und regelmäßig auch inhaltlich nicht bekannt wird. […]

24 Vor diesem Hintergrund ist die Voraussetzung des § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG nicht schon dann erfüllt, wenn der Aufenthaltsort der Behörde unbekannt ist; vielmehr sind gründliche und sachdienliche Bemühungen um Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts erforderlich (vgl. […])."

25 Der Einzelrichter konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Beklagte tatsächlich "gründliche und sachdienliche" Bemühungen um Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts des Klägers vorgenommen hat. Denn im Einzelfall des Klägers hätte es jedenfalls nahe gelegen, vor der Anordnung der öffentlichen Zustellung mit dem jetzigen Prozessbevollmächtigten, der den Kläger bereits im Anerkennungsverfahren vertreten hat, oder dem Bruder des Klägers Kontakt aufzunehmen, um den Aufenthaltsort des Klägers in Erfahrung zu bringen. Es hätte auch versucht werden können, den Kläger, dessen (gütige) E-Mail-Adresse der Ausländerakte (dort Bl. 69) entnommen werden konnte, per E-Mail anzuschreiben (vgl. auch Schlatmann, in: Engelhard/App/ders., VwZG, 12. Aufl. 2021, § 10 Rn. 4 m.w.N.). All dies ist nicht geschehen. Dass sich die Versuche, wären sie vorgenommen worden, im Nachhinein als erfolglos herausgestellt hätten (vgl. zur E-Mail-Kommunikation Bl. 147-152 der Ausländerakte; zur postalischen Erreichbarkeit über den Bruder die Vermerke vom 18.10.2022 und vom 1.11.2022 auf Bl. 284 und 286 der beigezogenen Akte 6103 Js 263/18), ist unschädlich, da es für die Einschätzung der Wirksamkeit der Aufklärungsbemühungen auf die ex-ante-Sicht ankommt. Dabei berücksichtigt der Einzelrichter, dass die Ausländerbehörde vielfältige Ermittlungen angestellt hat. Diese sind jedoch überwiegend (und soweit sie auch die oben erwähnten Ansätze erfassten) erst nach der öffentlichen Zustellung des Bescheids erfolgt, so dass es auf die Frage, ob sich die Beklagte die Bemühungen der Ausländerbehörde, der Behörde eines anderen Rechtsträgers, überhaupt zurechnen lassen kann, nicht ankommt. [...]

27 2. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 10. Mai 2021 erweist sich im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) hinsichtlich des Widerrufs der mit Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 2016 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft als rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

28 Die Beklagte hat die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger zu Unrecht widerrufen. Die Voraussetzungen liegen nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob der Bescheid bereits deswegen aufzuheben sein könnte, weil dieser an einem formellen Fehler leidet, der zur Rechtswidrigkeit führt [hierzu a)]. Jedenfalls sind die Voraussetzungen für einen Widerruf in der Sache nicht gegeben [hierzu b)].

29 a) Gemäß § 73b Abs. 6 AsylG (i.d.F. v. 21.12.2022, BGBl I S. 2817) ist dem Ausländer die beabsichtigte Entscheidung über einen Widerruf oder eine Rücknahme schriftlich unter Angabe der Gründe mitzuteilen und ihm ist Gelegenheit zu einer mündlichen oder schriftlichen Äußerung zu geben. Ihm kann aufgegeben werden, sich innerhalb eines Monats schriftlich zu äußern. Hat sich der Ausländer innerhalb der Frist nicht geäußert, ist nach Aktenlage zu entscheiden; der Ausländer ist auf diese Rechtsfolge hinzuweisen. Gemäß § 73b Abs. 7 Satz 3 AsylG sind Mitteilung oder Entscheidungen des Bundesamtes, die eine Frist in Lauf setzen, dem Ausländer zuzustellen. [...]

31 Es muss hier jedoch nicht entschieden werden, ob diese Umstände zu einem formellen Fehler des Bescheids wegen einer nicht ordnungsgemäßen Anhörung im Sinne von § 73b Abs. 6 AsylG führten. [...]

33 Die von der Beklagten angeführte Widerrufsbegründung trägt die Entscheidung nicht. Ein nachträglicher Wegfall der Verfolgungsgefahr kann seine Ursache zwar auch in der Person des Schutzberechtigten haben (vgl. Fleuß, in: BeckOK AuslR, 38. Ed. 1.7.2023, § 73 AsylG Rn. 43). Anders als die Beklagte meint, kann allein aus dem Umstand, dass der Kläger in den Jahren 2020 bis 2022 (vorübergehend) "unbekannt verzogen" war, nicht darauf geschlossen werden, er bedürfe des ihm gewährten Schutzes nicht mehr und wolle diesen offensichtlich auch nicht weiter in Anspruch nehmen (vgl. VG Gießen, Urt. v. 7.2.2023, 6 K 3269/20.GI.A, juris Rn. 26; VG München, Urt. v. 27.2.2019, M 22 K 18.32189, juris Rn. 63 ff.). [...]