VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 12.12.2023 - 12a K 582/20.A - asyl.net: M32057
https://www.asyl.net/rsdb/m32057
Leitsatz:

Regelmäßig kein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Bewährungsstrafe:

"Bei der im Rahmen von § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG zu treffenden Prognoseentscheidung spricht die Verurteilung eines Ersttäters zu einer Bewährungsstrafe regelmäßig gegen das Vorliegen einer konkreten Wiederholungsgefahr."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Straftat, sexuelle Selbstbestimmung, Wiederholungsgefahr, Bewährung, Sexualdelikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3, AsylG § 73 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Nach entsprechender Anhörung des Klägers widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom ..., zugestellt am ..., die mit Bescheid vom ... zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziff 1.). Der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG wurde nicht zuerkannt (Ziff. 2.). [...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Ziffern 1. und 2. des Bescheides des Bundesamtes vom ... sind nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 des Asylgesetzes – AsylG –) rechtswidrig und  verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den streitbefangenen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist§ 73 Abs. 5 AsylG. Danach ist die Zuerkennung des internationalen Schutzes zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn der Ausländer von der Erteilung nach§ 3 Abs. 2 bis 4 oder nach § 4 Abs. 2 oder 3 hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist. Die maßgebliche Alternative, auf die die Beklagte den Widerruf gestützt hat, ist hier § 60 Abs. 8 S. 3 des Aufenthaltsgesetzes– AufenthG –. Danach kann von der Anwendung des Abs. 1 abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

Allein das Vorliegen einer besonders schweren Straftat im Sinne des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG mit einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr führt nicht automatisch zum Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Insbesondere darf bei der Entscheidung über den Widerruf nicht allein maßgeblich auf das Strafmaß nach nationalem Recht abgestellt werden, sondern es ist eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalles vorzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2018 – C-369/17 –, NvWZ-RR 2019, 119, juris Rn. 51 ff.).

Festzustellen ist, ob der betroffene Ausländer mit der abgeurteilten Straftat die Schwelle zur Gefahr für die Allgemeinheit überschritten hat. Art. 33 Abs. 2 GFK zwingt insofern zu einer zukunftsgerichteten Prognose (vgl. Koch, in: BeckOK AuslR, Kluth/Heusch,Stand: 01.07.2020, § 60 AufenthG Rn. 57).

Hierfür muss, wovon auch die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid ausgegangen ist, über die rechtskräftige Verurteilung hinaus im Einzelfall eine konkrete Wiederholungsgefahr festgestellt werden (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 8. November 2021 – 2 Bf 539/19.A –, juris Rn. 46).

Eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers muss ernsthaft drohen; die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 14).

Eine solche konkrete Wiederholungsgefahr besteht hier jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten nicht. Zu den in die Prognoseentscheidung einzubeziehenden Umständen gehören insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Der Umstand allein, dass der Ausländer eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, lässt nicht auf einen Wegfall des Wiederholungsrisikos schließen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 16).

Ist der Ausländer – wie hier – als Ersttäter nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, so kommt eine negative Prognose nur ausnahmsweise in Betracht [...].

Zwar wohnt der hier in Rede stehenden Straftat ein erheblicher Unwert inne, der auch die Begründung dafür bildet, dass eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verhängt worden ist. Gleichwohl teilt der Einzelrichter nach Inaugenscheinnahme des durch die Überwachungskameras des Drogeriemarktes aufgezeichneten Videos der Straftat die in dem Urteil vom ... getroffene Bewertung der Großen Strafkammer des Landgerichts ..., dass der Übergriff nur geringe Intensität aufwies, die nur wenig über eine bloße Belästigung hinausgeht und nicht das Gewicht einer Gewalttat erreicht. Unter Würdigung dessen sowie aller ersichtlichen Tatumstände teilt der Einzelrichter zugleich auch die weitere Einschätzung der Großen Strafkammer des Landgerichts ..., dass es sich in diesem spezifischen Einzelfall um ein "Einmalversehen" handelt. Angesichts dessen vermag der von der Beklagten ins Feld geführte Umstand, dass gerade bei Sexualstraftätern grundsätzlich von einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit auszugehen ist, hier nicht durchzuschlagen. [...]