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VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 13.11.2023 - A 5 K 2470/23 (Asylmagazin 1-2/2024, S. 44 ff.) - asyl.net: M32053
https://www.asyl.net/rsdb/m32053
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Überstellung nach Kroatien:

1. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass systemische Mängel im kroatischen Asylsystem bestehen und dem Antragsteller auch als Dublin-Rückkehrer eine Kettenabschiebung nach Bosnien drohen könnte.

2. Die kroatischen Behörden stellen sogenannte 7-Tage-Papiere aus, wonach Betroffene das Land innerhalb von sieben Tagen zu verlassen haben. Diese dienen wohl als Grundlage für Abschiebungen nach Serbien und Bosnien, ohne, dass Rechtsschutz gegen sie möglich wäre.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Niedersachsen, Urteil vom 11.10.2023 - 10 LB 18/23 - Asylmagazin 12/2023, S. 422 ff. - asyl.net: M31913)

Schlagwörter: Kroatien, Dublinverfahren, Asylantragstellung, Aufnahmebedingungen, systemischen Mängel, Überstellung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 18, VO 604/2013 Art. 20 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

21 Allerdings spricht vorliegend einiges dafür, dass die Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Nach dieser Vorschrift wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zuständig, wenn keine Überstellung an einen anderen Mitgliedstaat erfolgen kann. Unmöglichkeit im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO liegt dann vor, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in einem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen. [...]

25 Ausgehend hiervon sind die Erfolgsaussichten der Klage als offen zu bewerten. Die Frage, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien – insbesondere im Hinblick auf die Problematik der sog. "Pushbacks" – systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufweisen, wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet (zur Rechtsprechungsübersicht vgl. VG München, Beschluss vom 17.07.2023 - M 10 S 23.50684 -, juris; zuletzt OVG Niedersachsen, Urteil vom 11.10.2023 - 10 LB 18/23 -, juris).

26,27 In Kroatien sind in der jüngeren Vergangenheit gehäuft und vermehrt Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens dahingehend belegt, dass es massiv und offenbar gezielt zu  Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit illegalen sog. Pushbacks (dem gewaltsamen Ab- oder Zurückdrängen von Asylbewerben an der kroatischen EU-Außengrenze nach Serbien und Bosnien-Herzegowina) sowie auch zu Kettenabschiebungen aus verschiedenen europäischen Ländern über Kroatien kommt [...].

28-30 In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird überwiegend davon ausgegangen, dass diese - als solche weitgehend unstreitige - Sachlage indes nicht auch auf die Situation von Personen übertragbar sein soll, die regulär als Dublin-Rückkehrer aus Deutschland nach Kroatien rücküberstellt werden, weil es spezifisch hierzu an tragfähigen eigenständigen Erkenntnisse mangelt [...]. Der Einzelrichter hat bislang hierzu die Auffassung vertreten, dass die klar und zahlreich dokumentierte Art und Weise des Umgangs von Kroatien (außerhalb des Dublin-Rahmens) mit Migranten durchaus von Relevanz auch für die Beurteilung sein kann, wie das Land ansonsten seinen völkerrechtlichen Pflichten nachkommt [...] und dass sie jedenfalls zu der Annahme führt, dass die den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung zugrundeliegende Prämisse gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedsstaaten erschüttert ist. Bei einem Staat, der – wie bis in die jüngste Vergangenheit Kroatien – in derart massiver Weise gegen das Refoulement-Verbot verstößt, kann die (widerlegliche) Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV steht, nicht mehr uneingeschränkt Geltung beanspruchen (auch wenn die Europäische Kommission die diesbezüglichen Erklärungen Kroatiens zu seinen Anstrengungen zur Wahrung der Grundrechtsverpflichtungen an den Außengrenzen sowie deren Überwachung politisch durchaus begrüßt, vgl. die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 16.11.2022 - COM(2022) 636 final -, S. 7 f., und auch wenn Kroatien nach EU-Evaluierung zum 01.01.2023 nunmehr auch in den Schengen-Raum aufgenommen wurde). Jedenfalls für vulnerable Dublin-Rückkehrer, die nicht ohne Weiteres in zumutbarer Weise auf die eigenständige Inanspruchnahme innerstaatlichen Rechtsschutzes im Fall einer drohenden unzulässigen Abschiebung verwiesen werden können (vgl. hierzu SFH, Polizeigewalt in Bulgarien und Kroatien: Konsequenzen für Dublin-Überstellungen, 13.09.2022) hat der Einzelrichter in seiner Spruchpraxis das Vorliegen einer verbindlichen individuellen vorherigen Garantieerklärung der kroatischen Behörden für erforderlich erachtet, aus der eine adäquate Aufnahme und gesicherte Einbeziehung ins Asylverfahren hervorgeht [...].

39,40 Vergleichbare Anhaltspunkte für entsprechende Zweifel ergeben sich auch konkret für den Antragsteller aus dem Akteninhalt: Er ist seinen insoweit plausiblen Angaben zufolge über Bosnien eingereist (vermutlich sogar bis dorthin legal mit einem Visum) und hat seinen hierzu stimmigen Angaben bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 21.07.2023 zufolge wohl ein sog. 7-Tage-Papier erhalten. Darüber hinaus lässt das augenscheinlich fragwürdige Verhalten der kroatischen Behörden darauf schließen, dass ihm durchaus wahrscheinlich (auf der Grundlage der bilateralen Vereinbarungen) eine unmittelbare Rückführung nach Bosnien droht, womöglich ohne dass er hiergegen rechtzeitig und/oder effektiv innerstaatlichen Rechtsschutz zur Durchführung seines Asylverfahrens im Dublin-Raum würde erhalten können. Schon der Inhalt bzw. die Chronologie der vorliegenden EURODAC-Ergebnismitteilungen im Zusammenspiel mit dem Schreiben der kroatischen Behörden vom 07.08.2023 deutet auf mehrere Ungereimtheiten hin, die für den Einzelrichter nicht plausibel erklärbar sind. Für den Aufgriff am 20.06.2023 liegt sowohl eine Treffermitteilung der Kategorie 1 vor (welche einen gestellten Asylantrag des Antragstellers in Kroatien belegt, vgl. Art. 24 Abs. 3 i.V.m. Art. 9 und Art. 14 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26.06.2013 - EURODAC-VO) wie auch taggleich eine weitere Treffermitteilung der 2 vorhanden ist, die (nur) den Erstgrenzübertritt nach Kroatien dokumentiert. Vor diesem Hintergrund wirft das Antwortverhalten des kroatischen Dublin-Departments auf das (zutreffend) auf den Treffer der Kategorie 1 und auf Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO gestützte Übernahmeersuchen Fragen auf; denn dort wird eine Zuständigkeit ausdrücklich nurmehr aus Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO anerkannt und zugleich – im Fettdruck – ausgeführt wird, dass die Zustimmung zur Übernahme des Antragstellers dazu dienen soll, die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats fortzuführen und abzuschließen. Das Antwortschreiben der kroatischen Behörden ist daher ein Indiz dafür, dass Kroatien versucht, seine Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO samt den damit einhergehenden Rechtspflichten aus Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu unterlaufen, da sich nach den vorliegenden EURODAC-Treffern die unionsrechtliche Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats unter keinem Gesichtspunkt ergeben kann. Es erscheint daher möglich, dass Kroatien im Falle des Antragstellers eine Anschlussüberstellung nach Bosnien und Herzegowina anstrebt bzw. sich dies zumindest offenhält. Darin zeigt sich eine aktuell offenbar vermehrt feststellbare Verwaltungspraxis der kroatischen Behörden [...].

41 Diese individuellen Besonderheiten unterscheiden die hier in Rede stehende Fallkonstellation auch von denjenigen, die vielfach der bereits zitierten (ober-)verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde lagen [...]. Der Einzelrichter teilt dabei ohne Weiteres die Prämisse, dass die Feststellung von erheblichen systemischen Schwachstellen des Asylsystems als solche nicht ausreicht, sondern vielmehr aufgrund dieser Schwachstellen des Asylsystems und der Aufnahmebedingungen in dem betreffenden Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen müssen, dass gerade die rechtsschutzsuchende Person im Zeitpunkt ihrer Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss konkret einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren [...]. Eben dafür gibt es aber die aufgezeigten Anhaltspunkte, die die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage tragen. Schließlich lässt auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg [...] nicht außer Acht, dass die bilateralen Rückübernahmeabkommen Kroatiens faktisch Fallgestaltungen auffangen (sollen), wo Zuständigkeiten nach der Dublin III-VO umgangen oder Asylanträge schlicht ignoriert werden sollen. Dass sich diese Rückübernahmeabkommen von ihrem geregelten Anwendungsbereich her nicht auf Dublin-Rückkehrer beziehen, bedeutet indes nicht zugleich, dass nicht auch auf ihrer Grundlage Rückführungen erfolgen, nachdem Dublin-Rückkehrer womöglich die Fortführung ihres Verfahrens nicht ermöglicht wird. Es trifft zwar zu, dass der Antragsteller im kroatischen Asylsystem registriert wurde und sich Kroatien ausdrücklich zu seiner Wiederaufnahme bereit erklärt hat, sodass die Übertragbarkeit der Referenzberichte über Pushbacks (auch aus dem Landesinneren) auf ihn in seiner Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer in Frage steht; gerade die von Kroatien aber augenscheinlich vorgenommene – und rechtlich nicht ohne Weiteres nachvollziehbare – "Rückstufung" seines Verfahrens (weg von Art. 18 Abs. 1 b) hin zu Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO) lässt aber befürchten, dass er womöglich ohne Fortführung seines Asylverfahrens oder die Gelegenheit zur Stellung eines neuen Asylantrags auf der Grundlage des bilateralen Übereinkommens nach Bosnien überstellt würde, wo er nicht zuletzt wohl auch mit Visum zuvor legal eingereist war. [...]