VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.11.2023 - 11 S 2251/22 - asyl.net: M32050
https://www.asyl.net/rsdb/m32050
Leitsatz:

Keine eheliche Lebensgemeinschaft bei laufendem Scheidungsverfahren:

"Die für das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderliche wechselseitige innere Bindung der Ehegatten im Sinne des nachweisbar betätigten Willens, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen, ist jedenfalls dann grundsätzlich nicht mehr gegeben, wenn zumindest einer der beiden Ehegatten offen die Beendigung der Ehe betreibt und die hierzu erforderlichen rechtlichen Schritte unternimmt. Dies ist regelmäßig - auch bei Fortbestand des gemeinsamen Haushalts - anzunehmen, wenn einer der beiden Ehegatten ein familiengerichtliches Verfahren in Gang setzt, das auf die Beendigung der Ehe zielt. [...]"

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: eheliche Lebensgemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Scheidung, Aufhebung der Ehe,
Normen: AufenthG § 31 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

13 Die für das Bestehen einer solchen Gemeinschaft erforderliche wechselseitige innere Bindung der Ehegatten (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 12.11.2020 - 11 S 2512/19 - juris Rn. 11 und vom 20.09.2018 - 11 S 1973/18 - juris Rn. 8) im Sinne des nachweisbar betätigten Willens, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen (BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 - juris Rn. 4), ist jedenfalls dann grundsätzlich nicht mehr gegeben, wenn zumindest einer der beiden Ehegatten offen die Beendigung der Ehe betreibt und die hierzu erforderlichen rechtlichen Schritte unternimmt. Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn einer der beiden Ehegatten ein familiengerichtliches Verfahren in Gang setzt, das auf die Beendigung der Ehe zielt. Anderes mag gelten, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang klar ergibt, dass ein Scheidungsantrag aus sachfremden Gründen und von vornherein mit der Absicht gestellt wurde, ihn zeitnah wieder zurückzunehmen. Auch ein Fall, in dem ein Scheidungsantrag in einer Stimmung akuter Verärgerung gestellt wurde, er nach rascher Versöhnung dann aber alsbald zurückgenommen wird, mag anders zu beurteilen sein. Allein der Umstand, dass die Ehegatten während des Laufs eines gerichtlichen Scheidungsverfahrens weiter in einer im Wesentlichen funktionierenden häuslichen Gemeinschaft leben, genügt für die Annahme des Fortbestands der ehelichen Lebensgemeinschaft hingegen regelmäßig nicht (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 12.11.2020 - 11 S 2512/19 - juris Rn. 11 und vom 20.09.2018 - 11 S 1973/18 - juris Rn. 8). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Fortbestand der häuslichen Gemeinschaft auf Umstände zurückzuführen ist, die nicht als Ausdruck einer wechselseitigen inneren Bindung der Ehegatten zu verstehen sind. Letzteres betrifft beispielsweise Fälle, in denen sich die Ehegatten nicht über die jeweiligen Nutzungsrechte an der Ehewohnung einigen können oder in denen sich der Auszug eines der beiden Ehegatten verzögert, weil es ihr bzw. ihm Schwierigkeiten bereitet, bezahlbaren anderen Wohnraum zu finden. Nichts anderes gilt, wenn sich der trennungswillige Ehegatte aus finanziellen Gründen bereit erklärt, am gemeinsamen Wohnen festzuhalten und die Ehewohnung künftig im Rahmen einer bloßen Wohn- und Haushaltsgemeinschaft zu nutzen.

14 Der Senat teilt danach die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem - zwischen den Beteiligten unstreitig - die frühere Ehefrau des Antragstellers im September 2019 beim Familiengericht die Aufhebung, hilfsweise Scheidung ihrer Ehe mit dem Antragsteller beantragt hat, trotz Fortbestands der häuslichen Gemeinschaft nicht mehr von einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgegangen werden kann. Dies gilt umso mehr, als sie diesen Antrag - ebenfalls unstreitig - wenig später um einen Antrag ergänzt hat, ihr allein die Ehewohnung zuzuweisen.

15 Es deutet auch nichts darauf hin, dass die frühere Ehefrau des Antragstellers ihre Anträge beim Familiengericht von vornherein unter dem inneren Vorbehalt und mit der Absicht gestellt hat, sie vor einer gerichtlichen Entscheidung wieder zurückzunehmen. Ebenso wenig lassen sie sich lediglich als Resultat eines akuten Streits zwischen den früheren Ehegatten verstehen, der bereits nach kurzer Zeit wieder beigelegt werden konnte. Im Gegenteil kommt aus ihnen ein verfestigter Wille der früheren Ehefrau des Antragstellers zum Ausdruck, ihre Ehe mit dem Antragsteller zeitnah zu beenden, sich also aus der ehelichen Lebensgemeinschaft zu lösen. [...]