OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 20.11.2023 - 4 LB 466/20 OVG (Asylmagazin 1-2/2024, S. 49 ff.) - asyl.net: M32040
https://www.asyl.net/rsdb/m32040
Leitsatz:

Kein subsidiärer Schutz für Wehrdienstverweigerer aus der West-Ukraine:

1. Es ist davon auszugehen, dass Wehrdienstentziehung in der Ukraine zu Strafverfolgung und einer Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe führt.

2. Die Haftbedingungen in der Ukraine sind schlecht, entsprechen nicht durchgehend internationalen Standards und stellen teilweise eine ernsthafte Bedrohung für das Leben und die Gesundheit der Gefangenen dar. Es gibt Berichte über körperliche Misshandlungen, mangelnde medizinische Versorgung, Ernährungsdefizite, mangelnde Hygiene, Lichtmangel und Gewalt unter den Gefangenen.

3. Einem gesunden, arbeitsfähigen Mann, der nicht auf medizinische Versorgung angewiesen ist und durch Arbeit seine Lebensverhältnisse - auch gegenüber Mitgefangenen - verbessern kann, droht durch die Inhaftierung keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG. Es ist daher auch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.

4. Zwar herrscht in der Ukraine ein internationaler bewaffneter Konflikt gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG, in der Westukraine (hier: Oblast Iwano-Frankiwsk und Oblast Tscherniwzi) ist die Sicherheitslage jedoch relativ stabil, sodass bei Rückkehr ohne individuell gefahrerhöhende Umstände keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit besteht.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2022 - A 3 K 5395/22 - asyl.net: M31128)

Schlagwörter: Ukraine, Wehrdienstentziehung, Haftbedingungen, Westukraine, ernsthafter Schaden, internationaler bewaffneter Konflikt, Haft, Iwano-Frankiwsk, Tscherniwzi
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

27 6. Dem Kläger ist auch kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

28 Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs.1 Satz 1 AsylG). [...]

31 6.2. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz kommt auch nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Betracht. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Ukraine nicht mit dem rechtlich erforderlichen Maß an Wahrscheinlichkeit Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. [...]

33 6.2.2. Der Kläger beruft sich insoweit auf die Befürchtung, in der Ukraine eine Freiheitsstrafe wegen einer Wehrdienstverweigerung verbüßen zu müssen und dabei unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt zu werden.

34 Das Gericht geht für seine Entscheidung davon aus, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr in die Ukraine tatsächlich weigern würde, einer Einberufung zum Wehrdienst Folge zu leisten. [...]

35 Das Gericht konnte jedoch nicht feststellen, dass der Kläger seine Entscheidung, den Wehrdienst zu verweigern, aus religiösen oder Gewissensgründen getroffen hatte. Der Kläger hat sich erstmals in der mündlichen Verhandlung auf seinen Glauben berufen, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinandergesetzt hat. Eine substantiierte Erklärung konnte er hierzu nicht abgeben. Das Gericht ist auch nicht davon überzeugt, dass der Kläger eine Gewissensentscheidung gegen den Wehrdienst getroffen hat. Eine Gewissensentscheidung ist eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit gegen die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2018 – 1 VR 12.17 – juris Rn. 87 m.w.N.). Aus dem Verfahrensverlauf ergibt sich jedoch, dass die Entscheidung des Klägers von der nachvollziehbaren Motivation geleitet war, sich nicht in Lebensgefahr zu begeben. Dem Kläger sollen moralische Bedenken gegen das Töten von Menschen im Krieg nicht abgesprochen werden. Seine Entscheidung beruht jedoch nicht maßgeblich auf solchen Erwägungen, sondern dient in erster Linie dem Selbstschutz.

36 Der Kläger ist tauglich gemustert. Er unterliegt nach ukrainischem Recht der Wehrpflicht und der Einberufung im Rahmen der allgemeinen Mobilisierung. Dem Kläger droht wegen der Verweigerung des Wehrdienstes in der Ukraine auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verurteilung zu einer Haftstrafe und deren Vollstreckung.

37 Zwar wurden Wehrdienstverweigerer in der Ukraine in der Vergangenheit nur milde bestraft. [...] Allerdings wurde das ukrainische Militärstrafrecht zum 27. Januar 2023 erheblich verschärft. Ein Grund für die Gesetzesverschärfungen war, dass Fahnenflucht und Wehrdienstentziehung bis dahin in der Regel milder als gesetzlich vorgesehen bestraft wurden. Wie die Gesetzesänderungen umgesetzt werden, ist aufgrund der durch den Kriegszustand bedingten unvollständigen Kriminalstatistik noch schwer einzuschätzen. Es wird aber berichtet, dass die ukrainischen Behörden damit begonnen haben, mehrjährige Haftstrafen gegen Wehrdienstverweigerer zu verhängen. [...]

39 6.2.3. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass der Kläger in der Ukraine mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit unmenschlichen oder erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt wäre. [...]

45 Nach Angaben des ukrainischen Justizministeriums werden jedem Gefangenen vier Quadratmeter Wohnfläche garantiert. [...] Das CPT stellte fest, dass vor allem in Untersuchungshaftanstalten Beleuchtung und Belüftung oft unzureichend sind. In regulären Gefängnissen für verurteilte Straftäter sind die Lichtverhältnisse besser, da mit Ausnahme von Hochsicherheitsbereichen größere Fenster vorhanden sind. Eine künstliche Belüftung gibt es in der Regel nicht. Alle Gefangenen erhalten dreimal täglich eine warme Mahlzeit. In der Untersuchungshaft verweigern die Gefangenen häufig das angebotene Essen und verlassen sich auf das von den Familien mitgebrachte Essen. [...] Die Justizverwaltung hat 2020 verbesserte Ernährungsstandards eingeführt. Dennoch wird die Versorgung mit Nahrungsmitteln mitunter als unzureichend bewertet. Die Gefangenen erhalten Kleidung und Bettzeug. Sie können nur einmal pro Woche duschen und erhalten keine Hygieneartikel. [...] Es gibt medizinische Abteilungen in den Gefängnissen. Das Hauptproblem ist die unzureichende Versorgung der medizinischen Einrichtungen mit Medikamenten. Die Finanzierung der Gefängnisse wird allgemein als unzureichend angesehen.

46 In den Gefängnissen kommt es zu Misshandlungen und Folter, insbesondere von Homosexuellen und Sexualstraftätern durch Mitgefangene. Es wird auch von körperlicher Gewalt durch das Gefängnispersonal berichtet. [...]

47 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Haftbedingungen in der Ukraine schlecht sind, nicht überall den internationalen Standards entsprechen und teilweise eine ernsthafte Bedrohung für das Leben und die Gesundheit der Gefangenen darstellen. Es gibt Berichte über körperliche Misshandlungen, mangelnde medizinische Versorgung, Ernährungsdefizite, mangelnde Hygiene, Lichtmangel und Gewalt unter den Gefangenen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 11.07.2023, Länderinformation der Staatendokumentation Ukraine, S. 25; U.S. Department of State, 20.03.2023, Ukraine 2022 Human Rights Report, S. 8).

48 Unter diesen Annahmen erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein Strafgefangener in der Ukraine während seiner Haft einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist. Für die Beurteilung der Frage, ob die für eine solche Behandlung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen, sind die allgemeinen Erkenntnisse zu den Haftbedingungen in der Ukraine und die darauf bezogenen Umstände des Einzelfalls zusammenfassend zu würdigen. Diese Würdigung ergibt im vorliegenden Fall, dass dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung während der Strafverfolgung und einer Strafhaft droht.

49 Aufgrund der außerordentlich milden Spruchpraxis der ukrainischen Gerichte bei Wehrdienstentziehungen ist auch nach der Gesetzesänderung in diesem Jahr zu erwarten, dass der Kläger nur zu einer geringen Freiheitsstrafe verurteilt wird, die er nicht im halboffenen Vollzug, sondern in einem Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe mit vergleichsweise besseren Haftbedingungen verbüßen wird. Der Kläger gehört keiner schutzbedürftigen Personengruppe an. Er ist gesund und arbeitsfähig, so dass er voraussichtlich nicht auf medizinische Versorgung angewiesen wäre und durch ein Arbeitseinkommen seine Haftbedingungen nicht nur materiell, sondern auch im Verhältnis zu seinen Mitgefangenen verbessern könnte. Von der Einhaltung der menschenrechtlich gebotenen Mindeststandards hinsichtlich der räumlichen Verhältnisse und der Verpflegung kann nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln grundsätzlich ausgegangen werden. [...]

50 6.3. Dem Kläger ist der begehrte subsidiäre Schutz schließlich nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zuzuerkennen. [...]

52 Die Ukraine ist danach derzeit Schauplatz eines internationalen bewaffneten Konflikts. [...]

54 Für die Frage, ob eine "ernsthafte individuelle Bedrohung" der Schutzsuchenden vorliegt, kann die Anzahl der bereits festgestellten Opfer bezogen auf die Gesamtbevölkerung in der betreffenden Region als relevant angesehen werden. Dieser Umstand kann jedoch nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium sein. Zur Feststellung, ob eine Bedrohung im Sinne der Vorschrift vorliegt, ist eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände, erforderlich. [...]

56 Diese Maßstäbe lassen sich auf den hier vorliegenden Fall eines internationalen Konflikts übertragen. Danach unterliegt der Kläger bei einer Rückkehr in die Ukraine als Zivilperson keiner ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts. [...]

58 Die Kampfhandlungen in der Ukraine konzentrieren sich derzeit auf den Osten und Süden des Landes. Raketen- und Luftangriffe finden im ganzen Land statt, wobei auch der Beschuss ziviler Infrastruktur und Wohngebiete nicht ausgeschlossen werden kann. Die Angriffe aus der Luft und durch Bodentruppen fordern täglich Tote und Verletzte, auch unter der Zivilbevölkerung. [...]

59 Die Oblast Iwano-Frankiwsk liegt im äußersten Westen der Ukraine. Die Sicherheitslage erscheint dort derzeit als relativ stabil. [...] Die Oblast Tscherniwzi liegt im Grenzgebiet zu Rumänien und der Republik Moldau. Die dortige Sicherheitslage wird gegenwärtig als ausreichend stabil eingeschätzt. [...]

60 Vor diesem Hintergrund kann für die beiden relevanten Oblaste nicht festgestellt werden, dass die vom russischen Angriffskrieg ausgehende willkürliche Gewalt ein besonders hohes Ausmaß für die  Zivilbevölkerung erreicht hat. [...]

66 7.1.2. Nach den oben getroffenen Feststellungen (siehe unter 6.2.3.) droht dem Kläger auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung wegen der Haftbedingungen in der Ukraine. Angesichts der Ausbildung und des Gesundheitszustandes des Klägers gibt es auch keine Gründe für die Annahme, dass er in der Ukraine nicht seinen existenziellen Lebensunterhalt sichern könnte. [...]