VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 31.10.2023 - M 28 E 23.32191 (Asylmagazin 1-2/2024, S. 51 ff.) - asyl.net: M32033
https://www.asyl.net/rsdb/m32033
Leitsatz:

Zulässiger Folgeantrag aus Abschiebehaft wegen drohender politischer Verfolgung in der Türkei:

1. Die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts bestimmt sich grundsätzlich danach, wo sich die schutzsuchende Person aufgrund einer asylrechtlichen Zuweisungsentscheidung aufzuhalten hat und nicht danach, wo sie sich tatsächlich aufhält.

2. Bei einem Asylfolgeantrag wirkt die vorher bestehende räumliche Beschränkung fort, § 71 Abs. 7 AsylG. Daran ändert auch der Haftbeschluss eines Gerichts oder der Umstand nichts, dass sich die antragstellende Person an einem anderen Ort in Abschiebehaft befindet. Insbesondere handelt es sich bei einem Haftbeschluss nicht um eine "andere Entscheidung" gemäß § 71 Abs. 7 AsylG, und der Haftbeschluss setzt eine Zuweisungsentscheidung auch nicht außer Kraft.

3. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] kann bei einem Asylfolgeantrag zwar gemäß § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG von einer Anhörung absehen. Kündigt die schutzsuchende Person in der Begründung des Asylfolgeantrags aber eine weitere Begründung an, die sich auch auf Umstände bezieht, die erst nach einer Abschiebung eingetreten sind, muss das BAMF die Gelegenheit einräumen, zu diesen Umständen Stellung zu nehmen. Das BAMF darf einen Folgeantrag nicht aufgrund von Informationsdefiziten ablehnen, die es selbst durch das Absehen von einer Anhörung herbeigeführt hat.

4. Wurde ein erster Asylantrag mit der Begründung abgelehnt, politische Verfolgung durch Strafverfahren in der Türkei könne nicht belegt werden und werden nunmehr entsprechende Unterlagen vorgelegt, ist der Asylfolgeantrag gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 VwVfG zulässig. Es kann im gerichtlichen Eilverfahren dahinstehen, ob sich die Sachlage gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geändert hat oder gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG neue Beweismittel vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, örtliche Zuständigkeit, Abschiebungshaft, räumliche Beschränkung, Zuweisungsentscheidung, Anhörung, Beweismittel, Türkei, Strafverfahren, neue Beweismittel,
Normen: AsylG § 71 Abs. 7 S. 1, AGVwGO Art. 1 Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 71 Abs. 7 S. 2, AsylG § 59a, AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

18 1. Das Verwaltungsgericht München ist für die Entscheidung über den Eilantrag örtlich nach § 122, § 80 Abs. 5, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO zuständig.

19 Danach ist in asylrechtlichen Streitigkeiten das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat. Während des  Asylfolgeantragsverfahrens gilt gemäß § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylG zunächst die letzte räumliche Beschränkung fort, solange keine andere Entscheidung ergeht.

20 Mit Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 18. Februar 2021 wurde der Antragsteller zuletzt ab dem 4. März 2021 dem Landkreis ... im Regierungsbezirk Oberbayern zugewiesen und die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der … ausgesprochen, sodass das Verwaltungsgericht München zuständig ist, Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung. Diese Zuweisungsentscheidung findet ihre asylrechtliche Grundlage in Art. 1, 3 und 5 AufnG, § 1 AsylbLG, §§ 7, 9, 11 DVAsyl, §§ 50, 51 AsylG und ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) auch noch nicht nach § 71 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 59a AsylG erloschen, weil sich der Antragsteller nach seiner Wiedereinreise noch keine drei Monate im Bundesgebiet aufhält.

21 Eine andere Entscheidung zur räumlichen Beschränkung des Antragstellers ist bislang – soweit ersichtlich – nicht ergangen. Insbesondere handelt es sich bei dem Haftbeschluss des Amtsgerichts Dresden vom 27. September 2023 (Az. 472 XIV 718/23 B) nicht um eine "andere Entscheidung" i.S.d. § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylG. Allein die Anordnung von Abschiebehaft stellt noch keine zuständigkeitsrelevante
Entscheidung dar [...]. Es kommt daher in der Regel für die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht darauf an, wo der Asylsuchende sich tatsächlich aufhält, sondern allein darauf, wo er sich aufzuhalten hat (BVerwG, B.v. 28.7.1997 – 9 AV 3/97 – juris). [...]

23 Ferner kommt es auch nicht darauf an, ob die Haftentscheidung die asylrechtliche Wohnsitznahmeverpflichtung "vorübergehend außer Kraft" setzt (so aber VG Frankfurt (Oder), B.v. 26.10.2022 – VG 6 K 178/20.A – juris Rn. 16), denn für die Zuständigkeitsbestimmung genügt die abstrakte Anknüpfung an die asylrechtliche Zuweisungsentscheidung (so im Ergebnis auch VG Darmstadt B.v. 19.8.2021 – 7 K 1566/21.DA.A – juris Rn. 8).

24 2. Der zulässige Antrag ist begründet. [...]

30 Bei seiner Vernehmung durch die Bundespolizei am 26. September 2023 gab der Antragsteller bereits an, dass in der Türkei politische Akten zu seiner Person geführt würden. Weiter legte er zur Begründung seines Asylfolgeantrags dem Bundesamt über seinen Bevollmächtigten am 29. September 2022 die Kopie eines Urteils des Strafgerichts Antalya (Az. ...) vor und gab an, dass es sich hierbei um eine Verurteilung wegen politischer Tätigkeit handele. Eine ausführliche Begründung sollte nach Auskunft des Bevollmächtigten des Antragstellers in einem noch anzuberaumenden informatorischen Anhörungstermin erfolgen. Hierauf wies der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 11. Oktober 2023 sowie telefonisch ausdrücklich hin. Im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens legte der Bevollmächtigte darüber hinaus ein weiteres Strafurteil des Gerichts in Antalya vor, nach dem der Antragsteller am 24. Dezember 2021 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr ... Monaten ... verurteilt wurde, weil der Antragsteller über seinen Facebook-Account Inhalte über PKK-KCK/ YPD/ PYD/ YPJ geteilt und sich so der Propaganda für eine Terrororganisation strafbar gemacht habe. Übersetzungen wurden für die Strafurteile nicht vorgelegt. Der Bevollmächtigte versicherte deren Inhalt jedoch anwaltlich.

31 Vor diesem Hintergrund vermag keines der seitens des Bundesamtes angeführten Argumente gegen die Wiederaufnahme des Asylverfahrens zu überzeugen. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes verletzt der Erlass des streitgegenständlichen Bescheides ohne vorherige Stellungnahmemöglichkeit des Antragstellers dessen Verfahrensrechte (aa). Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 2 VwVfG vor. Der Vortrag des Antragstellers erscheint hinreichend schlüssig (bb) und durch geeignete Beweismittel substantiiert (cc). Da der Antragsteller auch ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen, und die Ausschlussfrist des § 51 Abs. 3 AsylG nicht zur Anwendung kommt (dd), ist der Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet jedenfalls bis zur Entscheidung über die Hauptsache anzuordnen.

32 aa) So ist zunächst festzustellen, dass die Entscheidung des Bundesamtes die Verfahrensrechte des Antragstellers verletzt.

33 Zwar hat der Asylfolgeantragsteller bereits in seinem Antrag die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes ergibt und das Bundesamt kann von einer Anhörung nach § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG absehen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Bevollmächtigte eine weitere Begründung  angekündigt hat, die sich ausweislich des vorgelegten Strafurteils auch auf Umstände bezog, die erst nach der Abschiebung des Antragstellers eingetreten sind, hätte das Bundesamt dem Antragsteller gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG zumindest Gelegenheit geben müssen, zu den wesentlichen Zulässigkeitsaspekten – hier v.a. die aus Sicht des Bundesamtes fehlende Übersetzung sowie Angaben zur Herkunft des Dokumentes, des zugrundeliegenden Sachverhalts, der Konsequenzen usw. – Stellung zu nehmen (Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.7.2023, § 71 AsylG Rn. 11). Ganz im Gegenteil stützt das Bundesamt seine Entscheidung jedoch ganz wesentlich auf Informationsdefizite, die es selbst durch die Verkürzung der Verfahrensrechte des Antragstellers herbeigeführt hat.

34 bb) Der Vortrag des Antragstellers ist auch hinreichend schlüssig.

35 In seinem Asylerstverfahren berief sich der Antragsteller bereits darauf, in der Türkei politisch verfolgt zu werden, da ihm die Unterstützung oppositioneller Parteien unterstellt würde. Die gerichtlich bestätigte Ablehnung seines Asylantrags war insbesondere auch darauf gestützt, dass er seine Verfolgung nicht hinreichend glaubhaft machen konnte, z.B. durch Vorlage entsprechender Haftbefehle (VG München, U.v. 30. August 2019 – M 1 K 18.32651 – n.v.). Dass der Antragsteller nunmehr daran festhält in der Türkei verfolgt zu sein und zusätzlich eben jene Dokumente vorlegt, deren Fehlen im Erstverfahren ausschlaggebend war und die erst nach seiner Abschiebung verfügbar wurden, ist nicht nur schlüssig, sondern erscheint auch als geeigneter Grund das Asylverfahren wiederaufzunehmen. [...]