VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 29.11.2023 - 6 K 651/23 - asyl.net: M32027
https://www.asyl.net/rsdb/m32027
Leitsatz:

Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung bei Nichtberücksichtigung des Kindeswohls:

Die familiären Bindungen und das Kindeswohl des siebenjährigen Kindes mit vietnamesischer und ukrainischer Staatsangehörigkeit wurden nicht hinreichend berücksichtigt, weil die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihren Eltern und Geschwistern (die über ein Aufenthaltsrecht nach § 24 AufenthG verfügen) nur im Bundesgebiet möglich ist. Die Eltern des Kindes hatten in der Ukraine gelebt und waren kurz nach Kriegsbeginn geflüchtet, während das Kind seit mehreren Jahren bei seiner Großmutter in Vietnam lebte und seinen Wohnsitz somit dauerhaft außerhalb der Ukraine hatte.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15. Februar, EuGH - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329)

Schlagwörter: Ukraine, gewöhnlicher Aufenthalt, Kindeswohl, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, familiäre Bindungen, minderjährige Kinder, Kleinkind, inländisches Vollstreckungshindernis, Unionsrecht, Rückkehrentscheidung, Abschiebungsandrohung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 60a, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. a,
Auszüge:

[...]

18 Jedoch sind die verfügte Ausreiseaufforderung und die verfügte Abschiebungsandrohung (unions-) rechtswidrig, da sie das Kindeswohl und die familiären Bindungen der Antragstellerin nicht in der erforderlichen Weise berücksichtigen. [...]

20 Nach Art. 5 RFL berücksichtigen die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise das Wohl des Kindes (Buchst. a), die familiären Bindungen (Buchst. b) sowie den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen (Buchst. c), und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.

21 Der Europäische Gerichtshof hat jüngst entschieden (Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 -, Bundesrepublik Deutschland/GS, juris), dass Art. 5 Buchst. a und b RFL dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass Art. 5 RFL im Hinblick auf seinen Zweck, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte – u.a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes – zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden dürfe. Art. 5 RFL verwehre es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend mache, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern. Konkret müsse der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 -, Bundesrepublik Deutschland/GS, Rn. 23 und 25 f., juris). Die Belange des Art. 5 Buchst. a und b RFL sind daher auch bereits bei Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 AufenthG als Rückkehrentscheidung zu beachten. Es ist hingegen nicht ausreichend, wenn sie in einem dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagerten Verfahren Berücksichtigung finden und geschützt werden, wie – im Fall der Antragstellerin – durch die Feststellung eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses in Form einer Duldung aufgrund einer sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden rechtlichen Unmöglichkeit nach der Vorschrift des § 60a Abs. 2 Satz 1 Var. 1 AufenthG (vgl. VG München, Urteil vom 19.06.2023 - M 9 K 18.33243 -, Rn. 51, juris zu einer Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG).

22 Diesen unionsrechtlichen Anforderungen genügt die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 07.02.2023 nicht, da sie die familiären Bindungen und das Kindeswohl unter Beachtung der grundrechtlichen und konventionsrechtlichen Maßstäbe i.S.d. Art. 5 Buchst. a und b RFL nicht in gebührender Weise berücksichtigt.

23 Die sieben Jahre alte Antragstellerin lebt nach Aktenlage im Bundesgebiet in einer nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK grundrechtlich bzw. konventionsrechtlich geschützten Familiengemeinschaft mit ihren leiblichen Eltern und ihren beiden minderjährigen Geschwistern. Ihre Eltern verfügen derzeit über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG, da sie auch ukrainische Staatsangehörige sind und sich zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns in der Ukraine aufhielten; sie halten sich daher derzeit rechtmäßig im Bundesgebiet auf und sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung, wenn auch nur vorübergehend, vor einer (zwangsweisen) Überstellung auch nach Vietnam, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzen, geschützt. Von den Eltern der Antragstellerin kann nicht erwartet werden, dass sie ungeachtet dieses rechtmäßigen Aufenthalts in der Bundesrepublik zusammen mit der Antragstellerin und ihren beiden weiteren minderjährigen Kindern nach Vietnam ausreisen, um die (fristgerechte) Ausreise oder gar die Abschiebung der Antragstellerin zu ermöglichen und die Familiengemeinschaft in Vietnam herzustellen. Ebenso kann den Eltern der Antragstellerin nicht abverlangt werden, zu diesem Zweck die rechtlich geschützte familiäre Gemeinschaft in der Bundesrepublik aufzugeben, indem beispielsweise nur ein Elternteil und ggf. ein Teil der Geschwister zusammen mit der Antragstellerin (dauerhaft) nach Vietnam zurückkehrt. Auch eine alleinige Ausreise und erst recht eine Abschiebung der siebenjährigen Antragstellerin ohne ihre Eltern und Geschwister kommt schon wegen der zu schützenden Familiengemeinschaft nicht in Betracht. [...]

25 In einer solchen, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einer Minderjährigen unzumutbaren Situation dürfte sich aber die Antragstellerin befinden. Denn ihre Abschiebung dürfte derzeit wegen der familiären Bindung zu ihren sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Eltern nach § 60a Abs. 2 AufenthG bis auf Weiteres auszusetzen sein; dementsprechend wurde der minderjährigen Antragstellerin von der Antragsgegnerin im Auftrag des Regierungspräsidiums Karlsruhe auch eine Duldung ausgestellt und deren Gültigkeit zuletzt bis zum 10.02.2024 verlängert. Dass die Gründe für diese Duldung in absehbarer Zeit entfallen könnten, ist derzeit nicht zu erwarten.

26 Darüber hinaus dürfte der Abschiebung der Antragstellerin (ohne ihre Eltern) derzeit auch die Norm des § 58 Abs. 1a AufenthG, die den weitgehend gleichlautenden Art. 10 Abs. 2 RFL in nationales Recht umsetzt, entgegenstehen. Nach dieser Vorschrift hat sich die Behörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers zu vergewissern, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird. [...] Der bloße Umstand, dass sich in Vietnam noch die Großmutter der Antragstellerin aufhält und diese sich in der Vergangenheit auch über mehrere Jahre hinweg um die Antragstellerin gekümmert hat, dürfte für die erforderliche Gewährleistung der Personenfürsorge für die minderjährige Antragstellerin im Fall einer Abschiebung nach Vietnam nicht ausreichen, zumal die Antragstellerin bzw. ihre Eltern und ihr Prozessbevollmächtigter geltend machen, die Großmutter sei aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage bzw. gesundheitlicher Beschwerden nicht (mehr) in der Lage, sich um die Antragstellerin zu kümmern.

27 Kann die Abschiebungsandrohung jedoch nicht in absehbarer Zeit vollzogen werden, kann gegen den Minderjährigen keine (rechtmäßige) Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 RFL ergehen (so im Fall einer fehlenden Aufnahmemöglichkeit nach Art. 10 Abs. 2 RFL ausdrücklich: EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 -, Rn. 56, juris). [...]