VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11.12.2023 - 2a 1953/23.A - asyl.net: M32024
https://www.asyl.net/rsdb/m32024
Leitsatz:

Für Verlängerung der Überstellungsfrist muss Person zum Zeitpunkt der Verlängerung noch flüchtig sein:

1. Die Verlängerung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO setzt voraus, dass die betroffene Person im Zeitpunkt der Verlängerung der Überstellungsfrist noch aktuell flüchtig ist, die Flucht also andauert. Die Verlängerung der Überstellungsfrist erfolgt dadurch, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] dem zuständigen Mitgliedstaat (hier: Bulgarien) mitteilt, dass die betreffende Person flüchtig ist und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.

2. Hält sich eine Person nachweislich in ihrer Sammelunterkunft auf, wird aber frühmorgens (4:15 Uhr) nicht in ihrem Zimmer angetroffen, ist es nicht naheliegend, anzunehmen, dass sie auch zum Zeitpunkt der Mitteilung am Nachmittag (14:39 Uhr) an die bulgarischen Behörden noch flüchtig ist. Es drängt sich die Frage auf, ob die Person nicht im Laufe des Tages innerhalb der Unterkunft hätte angetroffen werden können. Die lange Dauer der Mitteilung über das Flüchtigsein von der Ausländerbehörde über das BAMF zu den bulgarischen Behörden geht zu Lasten des BAMF.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38.20 - asyl.net: M30234)

Schlagwörter: Überstellungsfrist, Dublinverfahren, Fristverlängerung, Beurteilungszeitpunkt, flüchtig, Sammelunterkunft, Unterkunftszimmer
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, VwGO § 123 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung eines bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Erforderlich sind die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Zivilprozessordnung).

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung spricht alles dafür, dass eine Überstellung des Antragstellers nach Bulgarien nicht weiter erfolgen darf. Die Überstellungsfrist dürfte abgelaufen sein. Sie dürfte sich nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin III-VO), auf 18 Monate verlängert haben, weil der Antragsteller nach summarischer Prüfung nicht flüchtig gewesen sein dürfte. [...]

Ein Antragsteller ist flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. [...]

Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO ("flüchtig ist") folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen. Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist bedarf es keiner Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat, sondern genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat den zuständigen Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.[...]

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Annahme des Bundesamtes, dass der Antragsteller flüchtig gewesen ist, nach summarischer Prüfung und anhand des sich aus dem Vortrag der Beteiligten sowie dem beigezogenen Verwaltungsvorgang ergebenden Sachverhalts nicht nachvollziehbar. Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist (hier: der Nachricht des Bundesamtes an die bulgarischen Behörden vom 19. Oktober 2023, dort eingegangen um 14:39 Uhr) noch flüchtig gewesen ist. Bekannt ist nur aus der Nachricht der ZAB Unna, dass der Antragsteller am 19. Oktober 2023 in seiner Einrichtung anwesend gewesen sei, aber nicht auffindbar. Zunächst sei er um 4:15 Uhr im Zelt 6, Kabine 4 der Unterkunft gesucht worden. Nach Rücksprache mit dem Betreuungsdienst habe der Außendienst erfahren, dass der Antragsteller Zelt 3, Kabine 6 zugeteilt sei. Diese sei um 4:25 Uhr (vergeblich) betreten worden. Die hier maßgebliche Frage, wo der Antragsteller sich in derzeit von 4:15 Uhr bis zur Meldung an die bulgarischen Behörden um 14:39 Uhr aufgehalten hat, lässt sich weder anhand des Parteivorbringens noch anhand der Akten klären. Es ist angesichts der Umstände des hiesigen Einzelfalls nicht naheliegend anzunehmen, dass sich der Antragsteller auch um 14:39 Uhr (noch) innerhalb der Unterkunft versteckt gehalten hatte. Anders als in Konstellationen, in denen Antragsteller die Unterkunft verlassen haben, insbesondere von dort als abwesend gemeldet werden, musste sich gerade hier auch im Laufe eines Tages die Frage aufdrängen, ob der Antragsteller, der - zwischen den Beteiligten unstreitig - in der Einrichtung befindlich gewesen ist, zwischenzeitlich innerhalb der Unterkunft wieder hätte angetroffen werden können. Wie oben ausgeführt gehen "Kommunikationsmängel" zwischen den Behörden (hier die Feststellung des Flüchtigseins durch die ZAB und die Mitteilung an die bulgarischen Behörden durch das BAMF) zu Lasten der Antragsgegnerin. Dass trotz der bekannten Anschrift und ohne jede Ortsabwesenheit ausnahmsweise dennoch von einem Flüchtigsein des Antragstellers auszugehen wäre, ist mangels "fortgesetzter Überstellungsversuche" hier nicht anzunehmen. [...]