Verpflichtung zur Nachholung des Visumverfahrens wegen unabsehbarer Dauer der Trennung vom Kind verfassungswidrig:
1. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG ist es grundsätzlich vereinbar, eine Person auf die Nachholung des Visumverfahrens zu verweisen, auch wenn damit die vorübergehende Trennung von einem Kind verbunden ist. Etwas anderes kann bei Kleinkindern gelten, die den nur vorübergehenden Charakter einer Trennung möglicherweise nicht begreifen und sie rasch als endgültigen Verlust empfinden.
2. Ein Elternteil kann grundsätzlich nur auf der Grundlage einer zuverlässigen Prognose über die Dauer der Trennung vom Kind zur Nachholung des Visumverfahrens verpflichtet werden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob ein Visum versagt werden kann und deshalb eine dauerhafte Trennung von Elternteil und Kind droht.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 22.12.2021 - 2 BvR 1432/21 (Asylmagazin 7-8/2023, S. 272 ff.) - asyl.net: M31018)
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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <47>; BVerfGK 7, 49 <54 f.>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. [...]
(1) Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, Rn. 12 m.w.N.). Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen das durch Art. 6 Absätze 1 und 2 GG geschützte private Interesse eines Ausländers und seines Kindes an der Aufrechterhaltung der zwischen ihnen bestehenden Lebensgemeinschaft nicht ohne weiteres schon deshalb, weil der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat, wenn durch das nachträgliche Entstehen der von Art. 6 Absätze 1 und 2 GG grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft eine neue Situation eingetreten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 45).
Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfGK 7, 49 <56>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, Rn. 17, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, Rn. 13 und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 46). [...]
(2) Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine gültige Prognose darüber anstellt, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 48). [...]
Für die Annahme, dass eine Trennung nicht dauerhaft sei, ist auch eine belastbare Prognose zu der Frage erforderlich, ob der Ausländer das Visumverfahren mit Erfolg durchlaufen wird. Allein der Umstand, dass im Grundsatz die Erteilung eines Visums generell in Betracht kommt, reicht dafür nicht hin. Insbesondere dann, wenn die Erteilung eines Visums – wie im Fall des § 36 Abs. 2 AufenthG – an hohe tatbestandliche Hürden gebunden ist oder der Auslandsvertretung ein Ermessen eingeräumt ist, ergeben sich Unwägbarkeiten für den Ausländer. Diese verringern die Wahrscheinlichkeit, dass ihm auch tatsächlich ein Visum erteilt wird, und müssen daher Eingang in die anzustellende Prognose finden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 2021 – 2 BvR 1432/21 –, Rn. 49 ff.). [...]
bb) Daran gemessen haben der Verwaltungsgerichtshof (1) und das Verwaltungsgericht (2) bei der Frage, ob dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung auf der Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen ist, die möglichen Beeinträchtigungen von Art. 6 Absätze 1 und 2 GG jeweils nicht hinreichend berücksichtigt.
(1) (a) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs erweist sich schon deshalb als im Hinblick auf Art. 6 Absätze 1 und 2 GG verfassungsrechtlich unzureichend, weil sie nicht darlegt, warum zur Durchsetzung der aufenthaltsrechtlichen Belange die Nachholung des Visumverfahrens für einen Familiennachzug erforderlich ist. Mit der Erteilung der hier von dem Beschwerdeführer beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG stand im vorliegenden Einzelfall eine konkrete andere Möglichkeit als die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug im Raum, für die das Visumerfordernis nicht gilt. Insoweit hätte es näherer Erläuterung bedurft, ob und weshalb es gleichwohl im Lichte des Art. 6 Absätze 1 und 2 GG notwendig war, den Beschwerdeführer auf das Visumverfahren für den von ihm begehrtem Familiennachzug und die damit verbundene Beeinträchtigung seiner schützenswerten familiären Belange einschließlich der schützenswerten Belange seinen erst zweijährigen Kindes, für das eine mehrmonatige Abwesenheit des Vaters besonders schwer wiegt, zu verweisen.
(b) Außerdem beruht die Entscheidung nicht auf einer tragfähigen Prognose. Sie begründet bereits nicht hinreichend, warum die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für den Beschwerdeführer und seine Kinder zur Folge habe. Der Beschluss zeigt nicht belastbar auf, dass dem Beschwerdeführer ein Visum wegen eines Aufenthaltsrechts nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen sein wird.
Der Verwaltungsgerichtshof führt lediglich aus, dass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis "in Betracht" komme. Die darüber hinaus erfolgende Feststellung, dass die Ausländerbehörde vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausgehe und der Beschwerdeführer dies nicht durchgreifend infrage gestellt habe, genügt nicht, zumal nicht die Ausländerbehörde über die Erteilung des Visums zu entscheiden hätte, sondern die Auslandsvertretung. Ob der Verwaltungsgerichtshof selbst vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte ausgeht, lässt sich dem Beschluss nicht eindeutig entnehmen. Es ist mangels näherer Subsumtion auch nicht erkennbar, worauf der Verwaltungsgerichtshof diese Annahme stützen würde.
Infolgedessen begründet der Verwaltungsgerichtshof auch nicht hinreichend, weshalb die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG – Sicherung des Lebensunterhalts – der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entgegenstehen wird. Der Verwaltungsgerichtshof lässt letztlich offen, ob die für die Sicherung des Lebensunterhalts erforderliche günstige Prognose im Falle des Beschwerdeführers gestellt werden kann, und verweist vielmehr auf die Möglichkeit einer Ausnahme von dieser Voraussetzung bei atypischen Ausnahmefällen. Ein solcher sei anzunehmen, wenn die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts "wie hier" eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG darstelle. Das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte hat der Verwaltungsgerichtshof selbst aber nicht aufgezeigt. [...]
b) Angesichts der Verletzung von Art. 6 Absätze 1 und 2 GG bedarf es keiner Entscheidung, ob die Verfassungsbeschwerde auch hinsichtlich der übrigen Rügen begründet ist. [...]
1. Die angegriffenen Beschlüsse sind aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). [...]