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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 30.11.2023 - C-228/21 u.a. DG u.a. gg. Italien - asyl.net: M32009
https://www.asyl.net/rsdb/m32009
Leitsatz:

Zur Informationspflicht, persönlichen Anhörung und der Frage drohender "Kettenabschiebung" in Dublin-Verfahren:

1. Sowohl die Informationspflicht gemäß Art. 4 Dublin-III-VO als auch die Pflicht zum persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 Dublin-III-VO gelten unabhängig davon, ob eine Person erstmals internationalen Schutz beantragt oder ob es sich um einen  weiteren Antrag handelt.

2. Verstößt ein Mitgliedstaat gegen die Pflicht zum persönlichen Gespräch im Dublin-Verfahren gemäß Art. 5 Dublin-III-VO und wird gegen die Überstellungsentscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt, ist die Überstellungsentscheidung aufzuheben, es sei denn, die betroffene Person hat im Rahmen des Rechtsbehelfs die Möglichkeit, persönlich alle ihre Argumente gegen die Entscheidung vorzubringen, ohne dass diese geeignet wären, etwas an der Überstellungsentscheidung zu ändern.

3. Verstößt der Mitgliedstaat gegen die Informationspflicht gemäß Art. 4 Dublin-III-VO und wird gegen die Überstellungsentscheidung ein Rechtsmittel eingelegt, ist die Überstellungsentscheidung nur aufzuheben, wenn der betroffenen Person, obwohl das persönliche Gespräch geführt wurde, dadurch, dass die Informationspflicht verletzt wurde, die Möglichkeit genommen wurde, ihre Argumente vorzubringen und diese zu einem anderen Ergebnis des Verwaltungsverfahrens hätte führen können.

4. Wurde in dem ersuchten Mitgliedstaat bereits ein Asylverfahren durchgeführt und der Asylantrag abgelehnt, darf das den Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung prüfende Gericht nicht überprüfen, ob diese Ablehnung rechtmäßig ergangen ist, es sei denn, es geht davon aus, dass im ersuchten Mitgliedstaat systemische Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO bestehen. Ob eine der betroffenen Person nach ihrer Überstellung drohende Abschiebung aus dem ersuchten Mitgliedstaat in das Herkunftsland [auch: Kettenabschiebung] gegen internationales Recht verstößt, ist - abgesehen von der Frage bestehender systemischer Mängel - nicht zu überprüfen.

5. Dass Behörden und Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats einerseits und die Behörden und Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats andererseits hinsichtlich der Auslegung der Voraussetzungen des internationalen Schutzes unterschiedliche Auffassungen vertreten, bedeutet nicht, dass systemische Mängel bestehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Informationspflicht, Merkblatt, persönliches Gespräch, Kettenabschiebung, mittelbare Zurückweisung, Grundsatz gegenseitigen Vertrauens,
Normen: VO 604/2013 Art. 4, VO 603/2013 Art. 29, VO 604/2013 Art. 5, VO 604/2013 Art. 27, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

71 Das erste Problem – um das es in den Rechtssachen C-228/21, C-315/21 und C-328/21 geht – betrifft das Recht auf Information (Art. 4 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 der Eurodac-Verordnung) und die Führung des persönlichen Gesprächs (Art. 5 der Dublin-III-Verordnung). Es geht darum, welche Folgen es für die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung hat, wenn das gemeinsame Merkblatt gemäß Art. 4 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 Abs. 3 der Eurodac-Verordnung nicht ausgehändigt und das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 der Dublin-III-Verordnung nicht durchgeführt worden ist.

72 Das zweite Problem – um das es in den Rechtssachen C-254/21, C-297/21 und C-315/21 geht – betrifft die Frage, ob das Gericht, das die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu überprüfen hat, die Gefahr einer "mittelbaren Zurückweisung" der betreffenden Person und damit eines Verstoßes des zuständigen Mitgliedstaats gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu berücksichtigen hat. [...]

74 In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, welche Tragweite das Recht auf Information und das Recht auf ein persönliches Gespräch jeweils haben und welche Rechtsfolgen die Verletzung dieser Rechte hat.

Zum Recht auf Information (Art. 4 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 der Eurodac-Verordnung) [...]

80 Nach dem Wortlaut von Art. 4 der Dublin-III-Verordnung ist das gemeinsame Merkblatt demnach zu übermitteln, sobald ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen ersten Antrag handelt oder nicht. [...]

84 Nach dem Wortlaut von Art. 29 der Eurodac-Verordnung ist das gemeinsame Merkblatt Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, demnach auszuhändigen, wenn ihre Fingerabdrücke abgenommen und die entsprechenden Daten an das Zentralsystem übermittelt werden. Die Aushändigung des gemeinsamen Merkblatts hat spätestens zum Zeitpunkt der Übermittlung der Fingerabdruckdaten an das Zentralsystem zu erfolgen, und zwar unabhängig davon, ob die betreffende Person zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat oder nicht.

85 Diese nach dem Wortlaut vorgenommene Auslegung von Art. 4 der Dublin-III-Verordnung und von Art. 29 der Eurodac-Verordnung wird durch deren systematischen Zusammenhang bestätigt. [...]

87 Im Übrigen ergibt sich aus Art. 16a Abs. 1 der Verordnung Nr. 1560/2003, dass das in Anhang X der Verordnung enthaltene gemeinsame Merkblatt dazu dient, "alle" Personen, die internationalen Schutz beantragen, über die Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung und der Eurodac-Verordnung zu informieren. [...]

90 Dieser systematische Zusammenhang bestätigt, dass einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, wenn die zuständige Behörde dieses  Mitgliedstaats seine Fingerabdrücke gemäß Art. 17 der Eurodac-Verordnung abnimmt und die entsprechenden Daten an das Zentralsystem übermittelt, um zu prüfen, ob möglicherweise in einem anderen Mitgliedstaat bereits ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, von den zuständigen nationalen Behörden das gemeinsame Merkblatt ausgehändigt werden muss. [...]

102 Somit ist festzustellen, dass Art. 4 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 der Eurodac-Verordnung dahin auszulegen sind, dass die Verpflichtung, die dort genannten Informationen zu erteilen, insbesondere das gemeinsame Merkblatt auszuhändigen, sowohl bei einem ersten Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung und einem Aufnahmeverfahren gemäß Art. 21 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung als auch bei einem weiteren Antrag auf internationalen Schutz und in Fällen des Art. 17 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung – Konstellationen, die beide zu Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 Abs. 1 bzw. Art. 24 Abs. 1 der Dublin-III Verordnung führen können – gilt.

Zum persönlichen Gespräch (Art. 5 der Dublin-III-Verordnung)

103 Nach Art. 5 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller und soll dieses Gespräch auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Art. 4 der Verordnung bereitgestellten Informationen ermöglichen. [...]

106 Entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung und der Kommission ist Art. 5 der Dublin-III-Verordnung demnach dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Verpflichtung zur Führung des persönlichen Gesprächs sowohl bei einem ersten Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung und einem Aufnahmeverfahren gemäß Art. 21 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung als auch bei einem weiteren Antrag auf internationalen Schutz und in Fällen des Art. 17 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung – Konstellationen, die beide zu Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 der Dublin-III Verordnung führen können – gilt.

Zu den Rechtsfolgen der Verletzung des Rechts auf Information und des Rechts auf ein persönliches Gespräch [...]

110 Sowohl die Informationspflichten gemäß Art. 4 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 der Eurodac-Verordnung als auch das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 der Dublin- III-Verordnung stellen aber Verfahrensgarantien dar, die Personen, die insbesondere durch ein Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 Abs. 1 oder Art. 24 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung betroffen oder möglicherweise betroffen sind, gewährt werden müssen. Deshalb muss mit dem Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Prinzip eine Verletzung der Verpflichtungen aus diesen Bestimmungen gerügt werden können, insbesondere, dass das gemeinsame Merkblatt nicht ausgehändigt und das persönliche Gespräch nicht geführt wurde.

111 Die Rechtsfolgen der Verletzung der Informationspflicht und/oder der Verpflichtung zur Führung eines persönlichen Gesprächs sind in der Dublin-III-Verordnung nicht geregelt. [...]

124 Demnach ist die Überstellungsentscheidung, wenn gegen sie gemäß Art. 27 der Dublin-III-Verordnung ein Rechtsbehelf eingelegt wird, mit dem geltend gemacht wird, dass das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 der Verordnung nicht geführt worden sei, unbeschadet von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung für nichtig zu erklären, es sei denn, die betreffende Person kann nach der nationalen Regelung im Rahmen dieses Rechtsbehelfs in einer Vernehmung, die die Voraussetzungen und Garantien gemäß Art. 5 der Verordnung erfüllt bzw. gewährt, persönlich alle ihre Argumente gegen die Entscheidung vorbringen, und diese Argumente sind nicht geeignet, etwas an der Überstellungsentscheidung zu ändern.

125 Als Zweites ist festzustellen, dass in Fällen, in denen zwar das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 der Dublin-III-Verordnung – auf dessen Wichtigkeit und die entsprechenden Verfahrensgarantien bereits hingewiesen wurde – geführt wurde, aber davor das im Hinblick auf die Informationspflicht gemäß Art. 4 der Dublin-III-Verordnung bzw. Art. 29 Abs. 1 Buchst. b der Eurodac-Verordnung auszuhändigende gemeinsame Merkblatt nicht ausgehändigt wurde, im Hinblick auf die sich aus dem Effektivitätsgrundsatz ergebenden Anforderungen zu prüfen ist, ob das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2013, G. und R., C-383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

127 Was die Informationspflicht angeht, ist somit festzustellen, dass das Unionsrecht, insbesondere die Art. 4 und 27 der Dublin-III-Verordnung und Art. 29 Abs. 1 Buchst. b der Eurodac-Verordnung, dahin auszulegen ist, dass in Fällen, in denen zwar das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 der Dublin-III-Verordnung geführt wurde, der betreffenden Person aber davor das im Hinblick auf die Informationspflicht gemäß Art. 4 der Dublin-III-Verordnung bzw. Art. 29 Abs. 1 Buchst. b der Eurodac-Verordnung auszuhändigende gemeinsame Merkblatt nicht ausgehändigt wurde, das nationale Gericht, das über die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu befinden hat, Letztere nur dann für nichtig erklären darf, wenn es anhand der tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Einzelfalls zu dem Schluss gelangt, dass der betreffenden Person, obwohl das persönliche Gespräch geführt wurde, dadurch, dass das gemeinsame Merkblatt nicht ausgehändigt wurde, tatsächlich derart die Möglichkeit genommen wurde, ihre Argumente vorzubringen, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. [...]

Zu den Fragen 1 bis 3 in der Rechtssache C-254/21, Frage 2 in der Rechtssache C-297/21 und Frage 3 in der Rechtssache C-315/21

129 Es bietet sich an, diese Fragen zusammen zu prüfen. Die vorlegenden Gerichte in den Rechtssachen C-254/21, C-297/21 und C-315/21 möchten im Wesentlichen wissen, ob das nationale Gericht nach Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit Art. 27 der Verordnung und den Art. 4, 19 und 47 der Charta befugt ist, zu prüfen, ob für die Person, die internationalen Schutz beantragt, nach der Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat, da dieser bereits einen Antrag auf internationalen Schutz dieser Person abgelehnt hat, die Gefahr einer mittelbaren Zurückweisung besteht, auch wenn "das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller" in diesem Mitgliedstaat keine "systemische[n] Schwachstellen" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung aufweisen. Die vorlegenden Gerichte in den Rechtssachen C-254/21 und C-315/21 möchten insbesondere wissen, ob das nationale Gericht hierzu befugt ist, wenn es den Begriff des internen Schutzes im Sinne von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie anders auslegt als die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats oder im Gegensatz zu diesen Behörden davon ausgeht, dass es im Herkunftsland einen bewaffneten Konflikt im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie gibt.

130 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten, die in der Charta, insbesondere in den Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten – die Würde des Menschen, die insbesondere das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung umfasst – verankert ist, anerkannt sind (Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

132 Im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems muss deshalb die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, in jedem  einzelnen Mitgliedstaat den Anforderungen der Charta, des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten genügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung) und dass das in Art. 9 der Verfahrensrichtlinie ausdrücklich vorgesehene Verbot der unmittelbaren oder mittelbaren Zurückweisung in allen Mitgliedstaaten beachtet wird.

133 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in einem bestimmten Mitgliedstaat in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem betreffenden Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

134 Deshalb hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten und damit auch die nationalen Gerichte nach Art. 4 der Charta verpflichtet sind, einen Asylbewerber nicht an den nach der Dublin-III-Verordnung bestimmten zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmung zu erfahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

140 Dass der ersuchende Mitgliedstaat und der zuständige Mitgliedstaat unterschiedlich beurteilen, über welchen Schutz der Antragsteller gemäß Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie in seinem Herkunftsland verfügen kann und ob gemäß Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht, ist für die Überprüfung der Gültigkeit der Überstellungsentscheidung hingegen im Prinzip nicht von Belang.

141 Allein diese Auslegung ist mit den Zielen der Dublin-III-Verordnung vereinbar, mit der insbesondere die Ziele verfolgt werden, eine klare und praktikable Methode der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einzuführen und Sekundärmigration der Asylbewerber zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C-411/10 und C-493/10, EU:C:2011:865, Rn. 84, und vom 2. April 2019, H. und R., C-582/17 und C-583/17, EU:C:2019:280, Rn. 77). Mit diesen Zielen wäre es nicht vereinbar, wenn der Richter, der die Überstellungsentscheidung überprüft, eine inhaltliche Beurteilung der Gefahr der Zurückweisung im Fall der Rückkehr vorzunehmen hätte. Er hat vielmehr davon auszugehen, dass die für Asylsachen zuständige Behörde des zuständigen Mitgliedstaats die Gefahr der Zurückweisung unter Einhaltung von Art. 19 der Charta richtig einschätzen und bestimmen wird und dass dem Drittstaatsangehörigen gemäß den Anforderungen von Art. 47 der Charta wirksame Rechtsbehelfe zustehen werden, um die Entscheidung, die die Behörde insoweit trifft, gegebenenfalls anzufechten. [...]