VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 26.10.2023 - 5 K 2842/17.A - asyl.net: M31995
https://www.asyl.net/rsdb/m31995
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für jungen, erwerbsfähigem Mann aus Äthiopien:

1. Bei einem jungen, gesunden, erwerbsfähigem Mann aus Äthiopien, der Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen kann und bei dem nicht von fehlendem familiären Rückhalt auszugehen ist, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass er seinen existenziellen Lebensunterhalt bei Rückkehr nicht sichern können wird.

2. In der Tigray-Region und den angrenzenden Gebieten ist die Versorgungslage aufgrund des Tigray-Konflikts desolat und es drohen Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung. In den besonders von Dürre betroffenen Regionen Somali, SNNPR, Oromia und Amhara herrscht akute Mangelernährung. In Addis Abeba, dem Ort, an dem Abschiebungen enden, ist die Lage jedoch nicht so kritisch.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Mangelernährung, World-Food-Program, Rückkehrhilfen, familiäres Netzwerk, Tigray, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Auch hinsichtlich des auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG gerichteten zweiten Hilfsantrages ist die Klage unbegründet. [...]

Vorliegend ist eine Verletzung des in Betracht kommenden Art. 3 EMRK nicht ersichtlich. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. [...]

Die humanitäre Lage bzw. die sozioökonomischen Verhältnisse können nur ganz ausnahmsweise eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK begründen [...]. Das Mindestmaß an Schwere ist dann erreicht, wenn der Rückkehrer sich seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann oder keinen Zugang zu medizinischer Behandlung hat (so jüngst BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 48.21 - Juris Rn. 6). Dies muss den gesamten Zielstaat betreffen, nicht bloß einen Teil. Ein Kläger kann also auf eine andere Region des Landes verwiesen werden, die nicht seiner Herkunftsregion entspricht. [...]

Ein Abschiebungsverbot besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern erst, wenn die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 –, BVerwGE 175, 227-241, Rn. 16).

Vorliegend steht es nicht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist. Der Kläger ist ein gesunder, junger und erwerbsfähiger Mann ohne Unterhaltslasten, der in Äthiopien die Schulausbildung bis zur 8. Klasse genossen hat und über die nötige Gewandtheit und Zielstrebigkeit verfügt, um selbst in einem ihm kulturell und sprachlich fremden Umfeld, wie in Deutschland, eine Ausbildung zu beginnen und sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es steht auch nicht zu erwarten, dass es ihm mangels familiären Beistands misslingen wird, die Anfangsschwierigkeiten zu überwinden. Dies gilt schon deshalb, weil zu Gunsten des Klägers nicht angenommen werden, dass er in Äthiopien keinen familiären Rückhalt durch die Mutter, die Großmutter, die Geschwister und den erstmals vor Gericht erwähnten Onkel vorfindet. Sein Vorbringen bietet mangels Glaubwürdigkeit keine Grundlage zur Beurteilung seiner familiären Situation des Klägers in Äthiopien. Das wirkt sich nach dem oben dargestellten Prognosemaßstab zu Lasten des Klägers aus. Denn es genügt gerade nicht, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 –, BVerwGE 175, 227-241, Rn. 16).

Unabhängig vom Vorstehenden ist ein mit Art. 3 EMRK unvereinbarer Zustand auch deshalb nicht beachtlich wahrscheinlich, weil die Kläger Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen kann, die sie für einen absehbaren Zeitraum vor Verelendung schützen und es nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit feststeht, dass sie nach deren Verbrauch der Verelendung preisgegeben sein würde.

Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. [...]

Der Kläger kann erhebliche Rückkehrhilfen beanspruchen. Aus dem sog. REAG/GARP-Programm können bei freiwilliger Rückkehr die Reisekosten übernommen werden. Vor allem aber können Rückkehrer eine finanzielle Unterstützung für die Reise (sog. Reisebeihilfe) sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe erhalten, nämlich 1.000,00 EUR für volljährige und 500,00 EUR für minderjährige Personen, pro Familie maximal 4.000,00 EUR. Weiterhin können Rückkehrer nach Äthiopien auch Unterstützung aus dem Programm "StarthilfePlus" beantragen. In dieser Beziehung erhalten Rückkehrer, die mit dem REAG/GARP-Programm ausreisen und eine Starthilfe bekommen, weitere finanzielle Unterstützung. Es handelt es sich um eine "2. Starthilfe", die nach sechs bis acht Monaten eingreift. [...]

Von einer besonders hohen Wahrscheinlichkeit der Verelendung, nachdem sie die Rückkehrhilfen aufgezehrt haben wird, kann im Falle des Klägers keine Rede sein. [...]

Bezugnehmend auf die Auskunftslage gibt es nämlich keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen u.a. durch die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, Dürre-/Überschwemmungsereignisse, den Tigray-Konflikt und die Heuschreckenplage sowie jüngst des Russland-Ukraine-Kriegs – gegenwärtig außerhalb der Tigray-Region und angrenzender Gebiete des nördlichen Äthiopiens derart desolat wäre, dass dem Kläger der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten. Maßgeblich ist dabei, dass diese Gefahr landesweit drohen muss (BVerwGE 146, 12-31, Rn. 26). Eine solche Zuspitzung der Situation ist bei Niederlassung außerhalb des Krisenherdes in Nordäthiopien nicht anzunehmen. Von Hungersnöten berichtet auch der letzte Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand März 2023) nicht. Insbesondere in Addis Abeba, dem Ort, an dem die Abschiebung endet, ist die Lage nicht so kritisch wie in den besonders von der Dürre betroffenen Regionen Somali, SNNPR, Oromia und Amhara, in denen akute Mangelernährung herrscht. [...]