OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 14.11.2023 - 13 ME 177/23 (Asylmagazin 1-2/2024, S. 57 f.) - asyl.net: M31985
https://www.asyl.net/rsdb/m31985
Leitsatz:

Keine Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beim Vortrag materieller Asylgründe: 

1. Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung gegenüber der Ausländerbehörde kann sich gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG auch daraus ergeben, dass einer Abschiebung zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG entgegenstehen und sie deshalb rechtlich unmöglich ist.

2. Wurde ein förmlicher Asylantrag gestellt, ist gemäß § 24 Abs. 2 AsylG ausschließlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] für die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots zuständig. Hat das BAMF im Rahmen des Asylverfahrens das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbots verneint, ist die Ausländerbehörde an diese Entscheidung gebunden.

3. Auch wenn kein förmlicher Asylantrag gestellt wurde, kann es Ausländerbehörden verwehrt sein, über zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote zu entscheiden. Dies ist der Fall, wenn Personen sich zur Begründung (auch) auf materielle Asylgründe berufen. Das sind solche, die der Sache nach auf die Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder Gewährung subsidiären Schutzes gerichtet sind.

4. Da der Antragsteller sich zur Begründung des zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG auf rein humanitäre Gründe bezieht, ist die Ausländerbehörde nicht gehindert, das Bestehen von Abschiebungsverboten bei der Frage der Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Das Bestehen eines Abschiebungsverbots wurde vorliegend jedoch nicht glaubhaft gemacht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, sachliche Zuständigkeit, Duldung, Aussetzung der Abschiebung, rechtliche Unmöglichkeit, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Zuständigkeit, Ausländerbehörde, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asylgründe
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 14 Abs. 1, AsylG § 24 Abs. 2, VwVfG § 51, AufenthG § 25 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

aa. Dabei ist zunächst zutreffend, dass eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG grundsätzlich auch dann in Betracht kommen kann, wenn einer Abschiebung ein nationalrechtliches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG entgegensteht [...]

(1) Nach Stellung eines förmlichen Asylantrags im Sinne des § 14 AsylG ist gemäß §§ 24 Abs. 2, 13 Abs. 2 Satz 4, 5 Abs. 1 AsylG ausschließlich das Bundesamt für eine Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen nationalrechtlicher zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zuständig. Hat das Bundesamt im Rahmen seiner Entscheidungskompetenz das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG verneint, ist die Ausländerbehörde hieran nach § 42 Satz 1 AsylG gebunden [...]. Liegt eine die Ausländerbehörde bindende Entscheidung des Bundesamts zu nationalrechtlichen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vor, kann diese vielmehr nur durch einen Asylfolgeantrag (§ 71 AsylG) oder durch einen auf derartige Abschiebungsverbote beschränkten Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 1 oder 5 VwVfG (sog. "isoliertes Folgeschutzgesuch") geändert werden [...].

(2) Aber auch dann, wenn ein Ausländer noch keinen förmlichen Asylantrag im Sinne des § 14 AsylG gestell t hat, kann es der Ausländerbehörde im Rahmen ihrer Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verwehrt sein, über das Vorliegen eines nationalrechtlichen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu entscheiden. Das ist der Fall, wenn sich ein Ausländer - im Gewand nationalrechtlicher zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG - ausschließlich oder zumindest auch auf materielle Asylgründe beruft, also auf Gründe, die der Sache nach auf die Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG, auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG oder auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG gerichtet sind. Dasselbe gilt, wenn das Vorbringen des Ausländers untrennbar mit einem solchen materiellen Asylbegehren verknüpft ist, was insbesondere bei einem nationalrechtlichen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot aus Krankheitsgründen im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG in Betracht kommen kann. Macht ein Ausländer materielle Asylgründe geltend, ist er auf die Durchführung eines Asyl- oder Asylfolgeverfahrens verwiesen, wo das Bundesamt - neben der Asylberechtigung und dem internationalen Schutz - auch über das Vorliegen nationalrechtlicher zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG entscheidet. Der Ausländer hat kein Wahlrecht zwischen asyl- und ausländerrechtlichem Schutzbegehren [...].

(3) Gemessen daran ist der Antragsgegner hier nicht von vorneherein gehindert, im Rahmen der Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG das vom Antragsteller geltend gemachte nationalrechtliche zielstaatsbezogene Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK zu berücksichtigen; eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamts besteht insoweit nicht. Denn es ist weder dargelegt noch anderweitig ersichtlich, dass der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag im Sinne des § 14 AsylG gestellt hat. Auch beruft sich der Antragsteller zur Begründung des von ihm angenommenen nationalrechtlichen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK nicht auf materielle Asylgründe im vorstehend bezeichneten Sinne. Er macht mit der fehlenden Möglichkeit zur Sicherung seines existentiellen Lebensunterhalts im Libanon vielmehr rein humanitäre Gründe geltend [...].

cc. Die Beschwerde legt allerdings weder dar, noch macht sie glaubhaft, dass aus den genannten Umständen für den Antragsteller ein nationalrechtliches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK im Hinblick auf den Libanon folgt, dem der Antragsgegner im Rahmen der Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG Rechnung zu tragen hat. [...]