Bei anhängigem Antrag auf Akteneinsicht begründet fehlende Klagebegründung nicht die Einstellung des Verfahrens:
1. Die Rücknahmefiktion gemäß § 81 AsylG ist ein scharfes prozessuales Instrument, das irreversible Folgen haben kann und deshalb im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben angewandt werden darf. Insbesondere darf § 81 AsylG nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder für unkooperatives Verhalten einer beteiligten Person gedeutet oder eingesetzt werden.
2. Im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG ist u.A. zu prüfen, ob die Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung gewahrt sind. Hiernach müssen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Ferner wird ein Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 81 AsylG betrieben, wenn die klagende Person innerhalb der Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz der Zweifel an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist.
3. Wurde zur Begründung einer Klage beim Verwaltungsgericht ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt und dieser nicht beantwortet, kann eine Betreibensaufforderung gemäß § 81 S. 1 AsylG nicht mit der Begründung ergehen, dass die Klage nicht begründet wurde. Ferner wurde nach Erlass der Betreibensaufforderung unter Verweis auf den unbeantworteten Antrag auf Akteneinsicht substantiiert dargelegt, dass weiterhin ein Rechtsschutzinteresse besteht, sodass die Feststellung, die Klage gelte gemäß § 81 S. 1 AsylG als zurückgenommen, gegen die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG verstößt.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
a) Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat durch die Feststellung, dass die Klage als zurückgenommen gelte, gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen.
aa) (1) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden [...].
(2) Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus [...].
Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. [...]
(3) Eine Regelung über eine Verfahrensbeendigung wegen unterstellten Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden [...]. Allerdings führt die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO beziehungsweise nach § 81 AsylG zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere, wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will. Insbesondere darf § 92 Abs. 2 VwGO beziehungsweise § 81 AsylG nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder für unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden. [...]
Zwar gilt auch für die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO beziehungsweise des § 81 AsylG, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts einen Verfassungsverstoß darstellt. Angesichts der gravierenden, den Rechtsschutz jedenfalls im konkreten Verfahren ohne Sachprüfung abschneidenden Wirkung dieser Vorschrift gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedoch eine strenge Prüfung der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 92 Abs. 2 VwGO beziehungsweise des § 81 AsylG durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere hat es zu kontrollieren, ob die von den Verwaltungsgerichten mit Rücksicht auf die Rechtsschutzgarantie herausgearbeiteten Anforderungen an eine zulässige Betreibensaufforderung gewahrt und die Voraussetzungen für die Annahme eines Nichtbetreibens nicht verfehlt, insbesondere der Vorschrift hierbei keine falsche Zielrichtung gegeben wurden. Hiernach müssen zum einen zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. [...] Zum anderen hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr im Sinne von § 81 AsylG betrieben, wenn er innerhalb der Monatsfrist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (ähnlich BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - 10 BN 1.05 -, juris, Rn. 7; BVerfGK 20, 43 <50>).
bb) Hieran gemessen bestand schon kein hinreichender Anlass, eine Betreibensaufforderung zu erlassen. Denn am Tag des Erlasses der Betreibensaufforderung, am 10. März 2021, lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschwerdeführer an der Fortführung des Verfahrens kein Interesse hatte.
Als Anhaltspunkt konnte insbesondere nicht die bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgte Begründung der am 9. Dezember 2020 erhobenen Klage gewertet werden. Aus der fehlenden Klagebegründung lässt sich im vorliegenden Einzelfall trotz der Mitwirkungspflicht aus § 74 Abs. 2 AsylG kein Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers herleiten.
Nach der VwGO ist anerkannt, dass allein das Ausbleiben einer – grundsätzlich vom Gesetz nicht geforderten – Klagebegründung regelmäßig nicht ausreicht, um einen Verstoß gegen die prozessualen Mitwirkungsverpflichtungen eines Klägers anzunehmen, der den Rückschluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zulässt. Anders liegt der Fall zwar im Asylverfahrensrecht, da § 15 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO umfangreiche Mitwirkungspflichten statuieren. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2001 - 1 B 24.01 -, juris, Rn. 5; VG Kassel, Urteil vom22. Februar 2018 - 1 K 302/17.KS.A -, juris). Entsprechend verpflichtet § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG den Kläger, die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung des Bescheids anzugeben (vgl. zu allem VG Kassel, Urteil vom 14. Februar 2019 - 3 K 6342/17.KS.A -, juris, Rn. 37).
Dennoch reicht im vorliegenden Einzelfall der Umstand, dass der Beschwerdeführer der Begründungspflicht des § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG bis zum Ergehen der Betreibensaufforderung am 10. März 2021 nicht entsprochen hatte, nicht aus, um auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses zu schließen. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung hatte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main einem Antrag des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht noch nicht Folge geleistet. [...]
Da der Beschwerdeführer das Gericht noch in der Frist im Anschluss an die Betreibensaufforderung an die ausstehende Gewährung von Akteneinsicht erinnerte und ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse anzeigte, durfte er auf eine entsprechende Entschuldigung vertrauen. [...]