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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 11.10.2023 - 1 C 35.22 (Asylmagazin 1-2/2024, S. 55 f.) - asyl.net: M31958
https://www.asyl.net/rsdb/m31958
Leitsatz:

Widerruf des Familienschutzes bei Tod der stammberechtigten Person:

Mit dem Tod einer stammberechtigten Person erlischt deren Asylberechtigung und Flüchtlingseigenschaft bzw. der subsidiäre Schutz. Eine auf Grundlage dieses Schutzstaus im Wege des Familienschutzes gemäß § 26 AsylG zuerkannter Schutzstatus ist in diesem Fall gemäß § 73a S. AsylG zu widerrufen, wenn ein Schutzstatus nicht aus anderen Gründen zuzuerkennen ist.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Gießen, 6 K 2801/19.GI.A - Urteil vom 14. Oktober 2022 - n.v.)

Schlagwörter: Familienschutz, Erlöschen, internationaler Schutz, Widerruf, Tod, Stammberechtigter,
Normen: AsylG § 73a S. 2, AsylG § 73a S. 3, AsylG § 26
Auszüge:

1. Der Widerruf der Familienflüchtlingseigenschaft ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er findet seine Grundlage in § 73a Satz 3 AsylG. Danach ist die Zuerkennung
des internationalen Schutzes (1.1.) unter anderem für den Fall zu widerrufen, dass der internationale Schutz des Ausländers, von dem die Zuerkennung abgeleitet worden ist, erlischt (1.2.) und dem Ausländer nicht aus anderen Gründen internationaler Schutz zuerkannt werden könnte (1.3.).

1.1. Der Klägerin wurde die Flüchtlingseigenschaft, abgeleitet von ihrem Ehemann, gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 AsylG zuerkannt.

1.2. Die Flüchtlingseigenschaft des Ehemannes der Klägerin ist infolge seines Ablebens erloschen (a). Höherrangiges Recht steht dem Erlöschen nicht entgegen (b).

aa) Der Wortlaut des § 73a Satz 3 AsylG steht dem nicht entgegen. Von dem natürlichen Sprachgebrauch des Verbs "erlischt" ist nicht nur das Erlöschen infolge des Eintritts eines Erlöschensgrundes im Sinne des § 72 Abs. 1 Satz 1 AsylG, sondern auch das Erlöschen des internationalen Schutzes infolge des Versterbens des Stammberechtigten gedeckt. [...]

cc) Die Erstreckung des Begriffs "erlischt" im Sinne des § 73a Satz 3 AsylG auf den Fall des Todes des Stammberechtigen trägt dem Grundgedanken des Asylrechts Rechnung, dass Schutz nur für den Fall gewährt wird, dass es der Schutzgewährung auch bedarf. Sowohl der internationale Familienschutz wie auch das Familienasyl gründen maßgeblich auf der regelhaften Vermutung, dass Verfolgerstaaten nicht selten dazu neigen, im Zusammenhang mit Maßnahmen gegen ein Familienmitglied auch Repressalien gegen dessen Ehegatten oder (minderjährige) Kinder zu ergreifen, und dass diesen in einer solchen besonderen Gefährdungssituation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit das gleiche Schicksal droht [...]. Verstirbt der stammberechtigte politische Gegner, so ist ein weiterer schutzrelevanter Zugriff auf dessen Familienangehörigen keineswegssicher ausgeschlossen. Indes ist hinsichtlich eines solchen Zugriffs nichtmehr von der Fortgeltung einer Regelvermutung auszugehen. § 73a Satz 3 AsylGträgt einer fortbestehenden Gefährdung eines Familienangehörigen im Einzelfallvielmehr dadurch Rechnung, dass die Zuerkennung des internationalen Familienschutzes nur zu widerrufen ist, wenn dem Ausländer nicht aus anderen Gründen internationaler Schutz zuerkannt werden könnte. [...]

Eine Rechtfertigung, den Familienangehörigen eines verstorbenen Stammberechtigtengegenüber dem Familienangehörigen eines Stammberechtigten, dessenSchutzberechtigung infolge des Verzichts auf die Flüchtlingseigenschaft oder des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit erloschen oder aber widerrufen oder zurückgenommen wird, durch die Zuerkennung eines jenseits des § 73a Satz 1 AsylG unwiderruflichen Schutzrechts zu begünstigen, ist nicht zu erkennen. Dies gilt umso mehr, als auch der Stammberechtigte selbst zu Lebzeiten den Beendigungsgründen der §§ 72 ff. AsylG unterliegt. Der abgeleitete Familienasylberechtigte würde anderenfalls eine Position "erben", die der Stammberechtigte und andere Flüchtlinge niemals hätten [...].

Dieses Normverständnis trägt der grundsätzlichen Akzessorietät des internationalen Familienschutzes angemessen Rechnung (vgl. nur Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2023, § 26 AsylG Rn. 47) und beugt einer anderenfalls eintretenden "Versteinerung" des internationalen Familienschutzes vor [...].

b) Dieses den Tod des Stammberechtigten einbeziehende Verständnis des Begriffs "erlischt" in § 73a Satz 3 AsylG steht mit höherrangigem Recht im Einklang. Weder Verfassungs- (aa) noch Unions- (bb) noch Völkerrecht (cc) begründen eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, Familienangehörigen eines verstorbenen Stammberechtigten unabhängig von einer diesen drohenden Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens dauerhaft asylrechtlichen Schutz zu gewähren [...].

bb) Nach Art. 45 Abs. 5 RL 2013/32/EU erlischt die Zuerkennung des internationalen Schutzes als solche von Rechts wegen nur in den beiden dort genannten Fällen des eindeutigen Verzichts und des Erwerbs der Staatsangehörigkeit des jeweiligen Mitgliedstaats sofern die Mitgliedstaaten dies beschließen. Der Tod des Stammberechtigten findet in dieser und anderen unionsrechtlichen Bestimmungen keine Erwähnung. Vielmehr ist das Erlöschen des Status mit dem Versterben des Statusinhabers eine Selbstverständlichkeit, deren gesetzliche Regelung weder der Rechtskundige noch der juristische Laie erwartet. [...]