VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 29.03.2023 - 3 A 215/19 - asyl.net: M31955
https://www.asyl.net/rsdb/m31955
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für junge Frau aus Eritrea:

1. Die Entziehung vom Nationaldienst als solche ist nicht Ausdruck einer politischen Gesinnung.

2. Auch wenn sexuelle Übergriffe auf Frauen im Nationaldienst verbreitet sind, handelt es sich bei Frauen im Nationaldienst nicht um eine soziale Gruppe, weil die Übergriffe nicht darauf beruhen, dass Frauen als andersartig betrachtet werden.

3. Beim eritreischen Nationaldienst handelt es sich um einen unbefristeten Arbeitsdienst unter menschenrechtsverachtenden Bedingungen, welcher als Zwangsarbeit und unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu qualifizieren ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe zu Frauen als soziale Gruppe EuGH, Urteil vom 16.01.2024 - C-621/21 - WS gegen Bulgarien - asyl.net: M32111)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Frauen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

(3) Die dargestellte Bestrafung wegen Nationaldienstentziehung knüpft jedoch nicht an die (unterstellte) politische Überzeugung derjenigen, die sich entziehen, an. Dies entspricht der einhelligen Rechtsauffassung der Obergerichte (zuletzt OVG Bremen, Beschl. v. 24.01.2023 - 1 LA 200/21; OVG NRW, Beschl. v. 21.09.2020 -19 A 1857/19.A; VGH Bayern, Urt. v. 05.02.2020 - 23 B 18.31593; OVG Niedersachsen, Beschl. v. 24.08.2020 - 4 LA 167/20; VGH Hessen, Urt. v. 30.07.2019 - 10 A 797/18.A; alle juris).

Nach den o.g. Maßstäben ist nicht festzustellen, dass in Eritrea die strafrechtliche Sanktionierung der Nationaldienstentziehung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet eingesetzt wird, um betroffene Personen wegen ihrer - auch nur zugeschriebenen – politischen Überzeugung zu treffen. Bei zusammenfassender, qualitativer Würdigung der vorliegenden Erkenntnisquellen überwiegen die Tatsachen, die dagegen sprechen, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, sich dem Nationaldienst entzieht, generell eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, die dafür sprechenden Umstände. Dies basiert auf den folgenden Erwägungen:

Zunächst ist die Sanktionierungspraxis für die dargestellten Delikte willkürlich und außergerichtlich. Würde der eritreische Staat jedem Nationaldienstverweigerer eine politisch oppositionelle Gesinnung unterstellen, wäre eine zum Teil auch sehr geringe Bestrafung (Belehrung oder gar keine Sanktion) nicht erklärlich. Ein "Politmalus" ist auch bei den Haftbedingungen nicht erkennbar (vgl. ausführlich auch OVG Hamburg, Urt. v. 21.09.2018 – 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 59 m.w.N.).

Gegen die generelle Unterstellung einer Regimegegnerschaft durch den eritreischen Staat spricht auch, dass der Nationaldienst heute neben Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der wirtschaftlichen Entwi1cklung des Landes, der Steigerung der Gewinne der staatlich unterstützten Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung dient und seine anfängliche ideologische Funktion als "Schule der Nation" in den Hintergrund getreten ist (vgl. ausführlich OVG Hamburg, Urt. v. 21.09.2018 - 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 64 m.w.N.).

Weiterhin spricht auch die Tatsache, dass die Nationaldienstentziehung ein "Massenphänomen" darstellt, gegen die Unterstellung einer politisch oppositionellen Gesinnung jedes Einzelnen. Auch dem eritreischen Staat muss bewusst sein, dass die große Menge an Nationaldienstverweigern nicht bei jedem einzelnen aus politischer Gesinnung erfolgt, sondern (wohl überwiegend) aus Flucht vor den prekären Lebensbedingungen im Nationaldienst erfolgt (vgl. zum inhaltlich entsprechenden Argument hinsichtlich der Auslandsflucht ausführlich OVG Hamburg, Urt. v. 21 .09.2018 - 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 65 m.w.N.).

Schließlich können Eritreer, die sich nicht nur dem Nationaldienst entzogen, sondern dies überdies durch eine illegale Ausreise getan haben, nachdem sie sich drei Jahre im Ausland aufgehalten haben, gegen Zahlung einer sogenannten Aufbau- bzw. Diasporasteuer ("2%-Steuer") und Unterzeichnung eines sogenannten Reueformulars in der Regel unbehelligt nach Eritrea ein- und wieder ausreisen und sich dort jedenfalls vorübergehend, etwa zu Besuchszwecken, aufhalten (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63 ff.; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32 ff.). Auch dies spricht dafür, dass der eritreische Staat seine ökonomischen Interessen deutlich vor die Bestrafung dieser Personen stellt. Dies zeigt ebenfalls, dass der Staat eine Wehrdienstentziehung und eine Auslandsflucht nicht als Akt politischer Opposition ansieht, den es stets zu bestrafen gilt. Vor diesem Hintergrund kann ungeachtet der ideologisch ausgerichteten und totalitären Struktur des eritreischen Staats insbesondere nicht angenommen werden, dass er gegenüber allen Nationaldienstentziehern zu Überreaktionen neigt und pauschal eine Gesinnungsverfolgung betreibt; vielmehr handelt der eritreische Staat insoweit durch Erschließung einer Finanzierungsquelle in Form der im Ausland lebenden Staatsangehörigen durchaus berechnend. [...]

bb. Eine Vorverfolgung lag auch nicht unter dem Gesichtspunkt vor, dass der Klägerin zum Zeitpunkt ihrer Ausreise bereits konkret sexuelle Übergriffen im Rahmen ihrer bevorstehenden Dienstpflicht drohten; denn diese Ve1iolgungshandlung hätte nicht an einen Verfolgungsgrund i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG angeknüpft. Dies entspricht der einhelligen Auffassung der obergerichtlichen Rechtsprechung (OVG NRW, Beseht. v. 21.09.2020 - 19 A 1857/19.A. juris Rn. 110 ff. ; OVG Hamburg, Urt. v. 01.12.2020 - 4 Bf 205/18.A, juris Rn. 44 ff.).

Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass es im Nationaldienst Eritreas verbreitet zu sexueller Gewalt gegen Frauen in unterschiedlicher Form kommt. Zu solchen Übergriffen kommt es insbesondere im Rahmen des Nationaldienstes durch Militärangehörige gegenüber Rekrutinnen im Ausbildungslager Sawa und in der militärischen Grundausbildung sowie gegenüber Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldienstes (vgl. ausführlich OVG Hamburg, Urt. v. 01.12.2020 - 4 Bf 205/18.A, juris Rn. 47 m.w.N.).

Bei Frauen im Nationaldienst Eritreas handelt es sich indes nicht um eine soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 lit. a) und b) AsylG. Eine solche "soziale Gruppe" wird nicht allein dadurch begründet, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung betroffen wird (vgl. ausführlich OVG NRW, Beschl. v. 21.09.2020 - 19 A 1857/19.A, juris Rn. 111 ff.). Die Organisation des Nationaldienstes und die Straffreiheit für die Täter, welche sexuelle Übergriffe im Nationaldienst ermöglichen, treffen aber in gleicher Weise alle dienstverpflichteten Frauen und Männer und beruhen nicht darauf, dass Frauen oder Übergriffe gegenüber Frauen als andersartig betrachtet werden. Der Einzelrichter schließt sich insoweit der überzeugenden Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW, Beschl. v. 21.09.2020 - 19 A 1857/19.A, juris 111 ff.; so auch zuletzt OVG Bremen, Beschl, v. 24.01.2023 - 1 LA 200/21) an. [...]

2. Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, ihr den subsidiären internationalen Schutzstatus gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen. Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Im Falle der Rückkehr nach Eritrea würde die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zum militärischen Teil des Nationaldiensts eingezogen (vgl. hierzu a.). Rekruten - und insbesondere Rekrutinnen - im militärischen Teil des Nationaldiensts werden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (dazu im Einzelnem unter b.). [...]

Bei dem eritreischen Nationaldienst handelt es sich um einen unbefristeten Arbeitsdienst unter menschenrechtsverachtenden Bedingungen, welcher als Zwangsarbeit und unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu qualifizieren ist und alle dienstpflichtigen Eritreer unterschiedslos trifft. Der eritreische Nationaldienst unterscheidet sich durch die unbegrenzte und willkürliche Dauer und die damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verbundene Zwangsarbeit und die nach den vorliegenden Erkenntnisquellen häufig und verbreitet unmenschlichen Bedingungen, einschließlich Bestrafungen und Folter von einem regulären Militärdienst. Die Bestrafung im eritreischen Nationaldienst ist willkürlich und umfasst Haft unter härtesten Bedingungen, Folter und andere Formen von Misshandlungen. Selbst kleinste Verstöße gegen die militärische Disziplin können drakonische Strafen mit Folter und Schlägen nach sich ziehen. Foltern und Demütigungen von Nationaldienstleistenden sind weit verbreitet. Dienstleistende Personen werden geschlagen, in Helikopter-Positionen aufgehängt, der glühenden Sonne oder klirrender Kälte ausgesetzt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Eritrea: Nationaldienst vom 30.06.2017, Seite 14 f.). Auch die allgemeinen Lebensbedingungen im Nationaldienst sind sehr hart: Weder die Bekleidung noch die Unterkünfte der Nationaldienstleistenden sind angemessen, zudem mangelt es an Essen und an medizinischer Versorgung. Auch der Kontakt zu Familienangehörigen wird oft unterbunden. Nationaldienstleistenden wird Besuch verwehrt und ihnen wird in der Regel nicht gestattet, an Beerdigungen von nahen Verwandten teilzunehmen. Zudem würden sie häufig an andere Orte versetzt, ohne dass ihre Familien wissen, wo sie stationiert sind. Nationaldienstleistende erhalten einen sehr niedrigen Sold, der ihnen und ihren Familienangehörigen keine menschenwürdige Existenz ermöglicht (Schweizer Flüchtlingshilfe, Eritrea: Nationaldienst vom 30.06.2017, Seite 15 f.).

Die Arbeitsbedingungen sind sowohl im militärischen als auch in zivilen Teil des Dienstes extrem hart, die Arbeitstage dauern bis zu 12 Stunden, ein Urlaubsanspruch scheint nicht geregelt, Feiertage oder Urlaub werden willkürlich nur selten gewährt. Besoldung, Bekleidung, Lebensmittel- und medizinische Versorgung sind schlecht und ermöglichen den Rekruten und ihren Familien keine menschenwürdige Existenz (vgl. auch VG Cottbus, Urt v. 27.03.2020 – 8 K 518/16.A, juris Rn. 47).

Diese Umstände begründen schon für sich genommen in ihrer Gesamtschau die Annahme, dass die zeitlich unbefristete Dauer des Nationaldiensts - entgegen der offiziellen Begrenzung auf 18 Monate (vgl. dazu BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 26. Februar 2019, S. 12 - die geschilderten Arbeitsbedingungen und die zwangsweise Durchsetzung des Dienstes eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG darstellen (so im Ergebnis neben den bereits Zitierten auch VG Berlin, Urt. v. 28.02.2019 - 28 K 392.18 A; VG Münster, Urt. v. 10.09.2019 - 11 K 5924/16.A; VG Hannover, Urt. v. 23.01.2018 - 3 A 6312/16; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 17.05.2017 - 1a K 1931/16.A; alle juris).

Besonders dramatisch stellt sich die :Situation für weibliche Rekrutinnen dar. Diesen droht im militärischen Teil des Nationaldienst sexuelle Nötigung und Vergewaltigung. Beischlaf wird durch Androhung der Verschärfung der Dienstbedingungen oder der Verweigerung von Heimreisen erzwungen, die Weigerung führt zu Internierung, Misshandlung und Folter, z.B. Nahrungsentzug oder dem Aussetzen extremer Hitze. Diese Praxis ist weitverbreitet (USDOS, Eritrea 2018, Human Rights Report, 19.3.2019, S. 3): eine Bestrafung der Täter findet nicht statt (zu alldem: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand: November 2020, S. 15; ausführlich und mit weiteren Nachweisen zur sexuellen Gewalt gegen Rekrutinnen auch VG Münster, Urt. v. 23.07.2019 - 11 K 3969/16.A, juris Rn. 82 ff. sowie OVG Hamburg, Urt. v. 01.12.2020 - 4 Bf 205/18.A, juris Rn. 47).

Nach dieser Beurteilung der Lage in Eritrea ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin, welche als junge erwachsene Frau der Nationaldienstpflicht unterliegt, im Falle ihrer zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wegen ihrer Dienstentziehung für unbestimmte Zeit inhaftiert und in der Haft unmenschlichen Haftbedingungen sowie Folter ausgesetzt sein wird. Die nach §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3 c AsylG erforderlichen Verfolgungsakteure sind ebenfalls gegeben, eine innerstaatliche Fluchtalternative (§§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG) besteht nicht, Ausschlussgründe nach § 4 Abs. 2 AsylG sind nicht zu erkennen. [...]