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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 12.09.2023 - XIII ZB 49/20 - asyl.net: M31947
https://www.asyl.net/rsdb/m31947
Leitsatz:

Haftanordnung mangels Möglichkeit der Verfahrensbevollmächtigten, an Anhörung teilzunehmen, rechtswidrig: 

1. Weiß das Gericht, dass eine Person durch eine Verfahrensbevollmächtigte vertreten wird, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird. Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung die Teilnahme an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft. 

2. Das Haftgericht muss Rechtsanwält*innen eine angemessene Reaktionszeit für die Prüfung einräumen, ob ein Verlegungsantrag gestellt werden soll und welche Möglichkeiten zur Verlegung bestehen. Besteht keine ausreichende Möglichkeit, die Verhinderung anzuzeigen und einen Verlegungsantrag zu stellen, darf aus dem Fehlen eines solchen Antrags nicht geschlossen werden, dass ein*e Rechtsanwält*in an der Anhörung nicht teilnehmen wollte. 

3. Eine Reaktionszeit von wenigen Stunden vor einem um 9:00 Uhr beginnenden Termin kann nicht als angemessen angesehen werden. 

(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf: BGH, Beschluss vom 25.04.2022 - XIII ZB 50/21 - bundesgerichtshof.de)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Anhörung, Prozessbevollmächtigte, Rechtsanwalt, Terminsladung, Termin, Verlegungsantrag, faires Verfahren,
Normen: EMRK Art. 6, GG Art. 20 Abs. 3.
Auszüge:

[...]

a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen. Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen. Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht [...].

b) Diesen Maßstäben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.

aa) Der Haftrichter hat spätestens bei der Anhörung des Betroffenen am 23. Juli 2019 Kenntnis davon erlangt, dass dieser eine Rechtsanwältin hatte, und der Betroffene hat in der Anhörung ausdrücklich geäußert, dass er deren Hinzuziehung zu dieser Anhörung wünsche. Das Amtsgericht hat der Verfahrensbevollmächtigten jedoch keine ausreichende Möglichkeit eingeräumt, an dem Termin teilzunehmen oder eine Terminsverlegung zu beantragen.

(1) Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, nach der dienstlichen Stellungnahme des zuständigen Amtsrichters sei Rechtsanwältin ... von dem Anhörungstermin telefonisch benachrichtigt worden. [...]

Da der Zeitpunkt, zu dem sie über den geplanten Anhörungstermin informiert war, somit nicht geklärt werden konnte, ist zu Gunsten des Betroffenen davon auszugehen, dass dies erst am Morgen des 23. Juli 2019 geschehen ist.

(2) Dies wäre vor dem Hintergrund, dass Rechtsanwältin ... ihren Kanzleisitz in Berlin hat und die Anhörung des Betroffenen in Kempten ausweislich des Protokolls am 23. Juli 2019 bereits um 9.00 Uhr durchgeführt wurde, nicht frühzeitig genug gewesen, um ihr eine Teilnahme an dem Termin oder auch nur das Stellen eines Verlegungsantrags zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Haftrichter dem Rechtsanwalt eine angemessene Reaktionszeit für die Prüfung einräumen, ob ein Verlegungsantrag gestellt werden soll und welche Möglichkeiten dafür gegebenenfalls im Hinblick auf eine Eilbedürftigkeit der Sache oder den Terminkalender des Anwalts bestehen (vgl. BGH, NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 8 mwN). Eine Reaktionszeit von allenfalls wenigen Stunden vor einem um 9.00 Uhr beginnenden Gerichtstermin kann nicht als angemessen angesehen werden.

bb) Hatte Rechtsanwältin ... demnach keine ausreichende Möglichkeit, ihre Verhinderung anzuzeigen und einen Verlegungsantrag zu stellen, durfte das Beschwerdegericht aus dem Fehlen entsprechender Erklärungen gegenüber dem Amtsgericht nicht darauf schließen, dass diese an der Anhörung nicht teilnehmen wollte. Es konnte demgemäß nicht davon ausgehen, dass der Haftrichter eine verfahrensfehlerfreie Anhörung durchgeführt hat. Nach den obengenannten Grundsätzen führt der Umstand, dass das Amtsgericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme der Verfahrensbevollmächtigten an der Anhörung vereitelt hat, ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft (vgl. BGH NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 9). [...]