VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 09.10.2023 - 5 A 40/22 MD - asyl.net: M31946
https://www.asyl.net/rsdb/m31946
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für alleinstehende Frau mit zwei Kindern aus Indien:

Eine alleinerziehende Frau mit zwei Kindern, die sich von ihrem Ehemann getrennt hat, wird aufgrund der systemischen Benachteiligung und Diskriminierung, der alleinstehende Frauen in Indien ausgesetzt sind, keine Möglichkeit haben, für sich und ihre Kinder auch nur eine bescheidene Existenz aufzubauen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Indien, Frauen, alleinerziehend,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Den Klägern droht im Falle der Rückkehr nach Indien eine erniedrigende Behandlung. Die Klägerin zu 1) hat ihren in Italien lebenden Ehemann verlassen. Sie hat deshalb im Falle der Rückkehr nach Indien damit zu rechnen, dass sie von den Familienangehörigen ihres Ehemannes verfolgt wird, weil die Trennung der Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann von deren Familienangehörigen als eine Verletzung der Familienehre angesehen wird. [...]

Schutz vor Übergriffen durch die Familienangehörigen des Ehemannes der Klägerin zu 1) hat sie nicht zu erwarten. Aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen bleibt die soziale Realität von Frauen in Indien von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung bestimmt. Materielle Benachteiligung, Ausbeutung, Unterdrückung und fehlende sexuelle Selbstbestimmung prägen häufig den Alltag von Frauen. Gewalt, Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gegen Frauen sind in Indien in nahezu allen Landesteilen und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten weiterhin ein großes Problem (zum vorstehenden: Auswärtiges Amt, Lagebericht Indien vom 05.06.2023 Seite 12 ff.). Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund hat die Klägerin zu 1) als alleinstehende Frau mit 2 kleinen Kindern keinen wirksamen Schutz vor Übergriffen durch die Polizei oder andere staatliche Stellen zu erwarten. [...]

Vernünftigerweise kann man von der Klägerin zu 1) nur erwarten, dass sie sich in einem anderen Landesteil Indiens niederlässt, wenn sie dort nicht nur vor Gefahren sicher ist, sondern dort auch die Möglichkeit hat, auf der Grundlage eigenen Erwerbseinkommens für sich und ihre Kinder, die Kläger zu 2) und 3), eine wenn auch bescheidene Existenz aufzubauen. Diese Möglichkeit haben die Kläger nicht. Wie oben ausgeführt, sind alleinstehende Frauen in Indien aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen in vielfältiger Weise von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung betroffen. Zwar gibt es auch Berichte über Beispiele von Frauen, die eigene Unternehmen in verschiedenen Sektoren, wie der Luftfahrt oder der Abfallwirtschaft oder im Bankensektor gegründet haben [...]. Dabei indes handelt es sich um Ausnahmeerscheinungen, die mit den gemeingewöhnlichen Lebensverhältnissen in Indien nichts zu tun haben. Bei der Wiederansiedlung alleinstehender Frauen mit Kindern stoßen diese in Indien auf vielfältige Schwierigkeiten wegen der Notwendigkeit Details über ihre Ehemänner oder Väter preiszugeben, um Zugang zu staatlichen Leistungen oder Wohnraum zu bekommen [...]. Alleinstehende Frauen sind vielfältigen Hindernissen und Vorurteilen in jeder Facette ihres persönlichen und beruflichen Lebens ausgesetzt. Unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen werden gedemütigt, belästigt, über ihr Leben befragt. In ihre Privatsphäre wird beständig eingedrungen. Sie sind mehr oder weniger Objekte des Interesses, des Bedauerns oder des Klatsches. Alleinstehend zu bleiben, ist in der indischen Gesellschaft und Kultur ein Tabu. Alleinstehende Frauen sind einer Vielfalt von Diskriminierungen, sozialen Stigmatisierungen und Stereotypen und werden sozial an den Rand gedrängt [...].

Vor diesem Hintergrund ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1) nach ihrer Rückkehr nach Indien in der Lage sein würde, sich zu integrieren und am indischen Arbeitsmarkt zu behaupten. Hinzukommt, dass von ihr als alleinerziehende Mutter von 2 kleinen Kindern im Alter von 11 und 5 Jahren die Aufnahme einer Vollzeitarbeitsstelle kaum erwartet werden kann, weil die Klägerin zu 1) auch nicht über die finanziellen Mittel verfügt, für die Zeit, in der sie einer Arbeit nachzugehen hätte, eine Kraft zu beschäftigen, um eine angemessene Betreuung der Kinder sicherstellen zu können. [...]