OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 19.07.2023 - 6 A 178/21.A - asyl.net: M31866
https://www.asyl.net/rsdb/m31866
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Person aus Eritrea:

Dem Kläger droht bei Rückkehr nach Eritrea die Einberufung in den Nationaldienst, im Rahmen dessen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass der Kläger den Diasporastatus erhalten könnte, um einer Dienstpflicht zu entgehen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.07.2023 - 4 LB 8/23 (Asylmagazin 9/2023, S. 305 ff.) - asyl.net: M31749; a.A. siehe OVG Mecklenburg-Vorpommern Urteil vom 17.08.2023 - 4 LB 145/20 - asyl.net: M31863)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, subsidiärer Schutz, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Reueerklärung, Zumutbarkeit, Diasporasteuer, Anspruch, staatsbürgerliche Pflicht, Mitwirkungshandlung, Botschaft, Auslandsvertretung, Qualifikationsrichtlinie,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3
Auszüge:

[...]

2. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. [...]

aa) Anknüpfungspunkt für einen ernsthaften Schaden sind die Bedingungen, unter denen der militärische Teil des eritreischen Nationaldienstes abzuleisten ist. [...]

Bei der Dauer der Dienstpflicht unterscheiden sich Rechtslage und Praxis ganz erheblich. Der aktive (militärische) Teil des Nationaldienstes dauert von Gesetzes wegen 18 Monate (Art. 2 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995). Der zivile Teil des Nationaldienstes ist nur von Gesetzes wegen ein Reservedienst. In der Praxis hingegen hat der Staat Eritrea seine Streitkräfte nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien von 1998 bis 2000 angesichts des zunächst nur militärisch beendeten, aber formell bis Juli 2018 weiter bestehenden Kriegszustandes im Jahr 2002 auf der Grundlage des Art. 21 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 im Zustand der Mobilmachung belassen, in dem auch die Reservisten weiter bis zur ihrer Entlassung dienstpflichtig sind (Art. 2 Abs. 4 der Proklamation Nr. 82/1995, frühere "no war no peace"-Situation). Der Zustand der Mobilmachung dauert auch bis heute an, obwohl der Kriegszustand mit Äthiopien seit dem Friedensabkommen vom 9. Juli 2018 inzwischen auch formell beendet ist. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen unterschiedslos regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze weit überschreitenden, mehrjährigen bzw. unbefristeten Dienstleistung heran (vgl. auch UNHRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6. Mai 2022, Nr. 22 ff.). Es gibt Berichte über Personen, die zwischen 12 und 30 Jahren im Nationaldienst verbrachten (UNHRC a. a. O. Nr. 23; EASO, COI QUERY Eritrea, 19. April 2021, S. 4 f.; DIS, Country Report, Januar 2020, S. 17 und 60). Nur in Einzelfällen werden Angehörige des Nationaldienstes schon nach den gesetzlich vorgesehenen 18 Monaten entlassen. Die Angaben über die Altersgrenzen, bis zu denen die Staatsangehörigen als dienstpflichtig angesehen werden, variieren bei Männern zwischen 50 und 57 Jahren (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea - im Folgenden Lagebericht Eritrea - v. 3. Januar 2022; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, Gesamtaktualisierung am 19. Mai 2021, S. 11, 14 f.; USDOS, Eritrea, Human Rights Report, 12. April 2022, S. 19; EASO, Country of Origin Information Report - Eritrea, September 2019, S. 35 ff.; OVG NRW, Beschl. v. 21. September 2020 - 19 A 1857/19.A -, juris Rn. 56 ff.; VG Köln, Urt. v. 13. September 2022 - 8 K 233/17.A -, juris Rn. 114 ff.). [...]

Auch jüngeren Erkenntnismitteln zufolge kommt es im eritreischen Militärdienst im militärischen Teil verbreitet zur Anwendung von Folter sowie zu unmenschlicher sowie erniedrigender Behandlung (vgl. UNHRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6. Mai 2022, Nr. 22; Human Rigths Watch, World Report 2023, 13. Februar 2023, S. 2; UK Home Office, Eritrea: National Service an illegal exit, September 2021, S. 37; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, Gesamtaktualisierung am 19. Mai 2021, S. 9; EASO, Eritrea: Latest developments on political situation an national service between 1 January 2020 and 31 January 2021, 19. April 2021, S. 6; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise, Rückkehr, September 2019, S. 40 f.; Pro Asyl, Eritrea im Focus, 10. März 2020, S. 22 f.; vgl. auch VG Münster, Urt. v. 10. September 2019 - 11 K 5924/16.A -, juris Rn. 167 f. m. w. N.). [...]

Während ein Teil der Rechtsprechung für die Lebensbedingungen im zivilen Nationaldienst einschätzt, dass sie nicht das für eine unmenschliche Behandlung notwendige Mindestmaß an Schwere erreichen (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 27. Oktober 2021 - 4 Bf 106/20.A -, juris Rn. 56; VG Köln, Urt. v. 27. Oktober 2022 - 8 K 5179/22.A -, juris Rn. 224 ff.), ist dies im militärischen Teil zur Überzeugung des Senats anders zu beurteilen. Hier ergibt sich aus den zitierten Erkenntnismitteln, dass die Lebenssituation der Dienstpflichtigen nicht allein - wie im zivilen Teil des Nationaldienstes - von Arbeitszwang, mangelnder persönlicher Freiheit und einer unzureichenden Bezahlung geprägt ist, sondern noch darüber hinaus verbreitet mit Folter und willkürlichen Bestrafungen einhergeht, die derart demütigend, erniedrigend, menschenverachtend oder herabsetzend sind, dass sie geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (vgl. im Ergebnis auch: VG Bremen, Beschl. v. 13. Dezember 2021 - 7 K 2745/20 -, juris Rn. 78 ff; VG Münster, Urt. v. 10. September 2019 - 11 K 5924/16.A -, juris Rn. 156 ff.; VG Berlin, Urt. v. 28. Februar 2019 - 28 K 392.18.A -, juris Rn. 46; VG Hannover, Urt. v. 23. Januar 2018 - 3 A 6312/16 -, juris Rn. 74). [...]

Der inzwischen 25-jährige und gesunde Kläger unterliegt der eritreischen Wehrpflicht und müsste seinen Dienst voraussichtlich nach einer militärischen Ausbildung im militärischen Teil des Nationaldienstes absolvieren. Denn zum einen ist ein behördliches Interesse, den Kläger, der über keinen mittleren Schulabschluss und keine Berufsausbildung verfügt, außerordentlich ohne militärische Ausbildungsphase und anschließenden Militärdienst zum zivilen Dienst zu verpflichten, nicht ersichtlich. Zum anderen fällt er weder unter eine der in Art. 12, 14 und 15 der Proklamation Nr. 82/1995 vorgesehenen Ausnahmen freigestellter Personen (vor allem Schwangere und Frauen mit Kind). Zudem hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weder bei Abschiebung noch bei freiwilliger Rückkehr die Möglichkeit, als sog. Auslands- oder Diasporaeritreer von der Nationaldienstpflicht befreit zu werden. [...]

Zwar würde der Kläger des subsidiären Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht bedürfen, wenn er den ihm bei Abschiebung drohenden ernsthaften Schaden in Form der Einberufung in den militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes durch zumutbares eigenes Verhalten, wie eine freiwillige Rückkehr und sonstiges Tun, abwenden könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, juris Rn. 27; v. 3. November 1992 - 9 C 21.92 -, juris Rn. 11 f.; SächsOVG, Urt. v. 10. November 2022 - 1 A 1078/17.A -, juris Rn. 84). [...] Auf beide Fragen kommt es im Streitfall nicht streitentscheidend an. Denn selbst wenn unterstellt wird, dass dem Kläger die Unterzeichnung einer von ihm ggf. noch vor Aushändigung des Reisepasses und Einreise angeforderten Reueerklärung zumutbar wäre, hätte er nach gegenwärtiger Erkenntnislage voraussichtlich nicht die Möglichkeit, bei der eritreischen Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsbehörde in Asmara den von der Nationaldienstpflicht befreienden Diaspora-Status zu erlangen.

Allerdings wird für Personen, die nach dreijährigem Auslandsaufenthalt (freiwillig) zurückkehren, ohne bereits im Besitz des ihren Diaspora-Status bescheinigenden RCF-Dokuments zu sein, berichtet, dass sie - wenngleich ohne rechtsstaatliche Garantie - so doch "in der Regel" dann unbehelligt nach Eritrea einreisen und anschließend bei der Einwanderungsbehörde in Asmara ihren Diaspora-Status regeln können, wenn sie über Einreisepapiere verfügen, vor der Einreise die 2 %-Aufbausteuer entrichtet und - soweit erforderlich - bei der eritreischen Auslandsvertretung eine sog. Reueerklärung (Formular 4/4.2) unterzeichnet haben, die ihnen regelmäßig Straffreiheit für Dienstverweigerung, Desertion oder illegale Ausreise sichert (vgl. AA, Lagebericht v. 3. Januar 2022, S. 23 f., 27). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status hält der Senat diese verallgemeinernde und hinsichtlich der Antragsvoraussetzungen für den Diaspora-Status nicht weiter vertiefte Aussage indes für ungenau (vgl. auch VG Bremen, Beschl. v. 13. Dezember 2021 - 7 K 2745/20 -, juris Rn. 76). Präziser erscheinen diejenigen Quellen, die zusätzlich für die Erlangung des Diaspora-Status anführen, dass eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so ausdrücklich Mekonnen/Yohannes, Gutachten für Pro Asyl/Connection e. V., Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, dt. Übersetzung von September 2022, S. 12; vgl. auch EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 62; SFH, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und "Diaspora-Steuer", 30. September 2018, S. 10). Ohne den Nachweis eines ausländischen Wohnsitzes oder zumindest einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland könnte anderenfalls jeder der nach dreijährigem Auslandsaufenthalt auf Dauer nach Eritrea zurückkehren wollte oder muss, die Befreiung von der Nationaldienstpflicht erreichen, was in Anbetracht ihrer rigorosen Durchsetzung bei Inlandseritreern nicht plausibel erscheint. Soweit in den Erkenntnismitteln über permanente Rückkehrer aus Israel, Sudan oder Jemen berichtet wird, die unbehelligt geblieben seien, sind ihre in Anwesenheit von eritreischen Beamten gemachten Aussagen ebenso wie eritreische Behördenangaben zum einen mit Vorsicht zu behandeln (vgl. EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65; EASO, Nationaldienst und illegale Ausreise, November 2016, S. 34). Zum anderen bleibt unklar, ob sie bei Beantragung des Diaspora-Status noch über eine noch nicht abgelaufene ausländische Aufenthaltserlaubnis verfügten. [...] Jedenfalls geht es nicht an, von diesen Gruppen allgemein auf die Möglichkeit des Erhalts des Diaspora-Status für diejenigen zu schließen, die - wie der Kläger - bei Rückkehr weder über einen ausländischen Pass noch über eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland verfügen. Ein solcher Schluss verbietet sich auch nach denjenigen Quellen, nach denen eine problemlose Einreise regelmäßig nur denjenigen Diasporaeritreern offen steht, die in den 1990er Jahren zurückkehrten, die bereits eine ausländische Staatsangehörigkeit innehaben und über gültige Visa verfügen oder die den Diaspora-Status während eines Aufenthalts in Eritrea bereits erlangt haben (DIS, Eritrea, national service, exit and entry, Januar 2020, S. 36; vgl. auch VG Bremen a. a. O. Rn. 73 ff.).

Der Kläger liefe daher, selbst wenn er bei freiwilliger Rückkehr unter ihm ggf. zuzumutender Unterzeichnung der Reueerklärung zunächst am Flughafen die Überprüfung durch Sicherheitsbehörden "bestehen" würde, Gefahr, den von der Nationaldienstpflicht befreienden Diaspora-Status nicht zu erhalten und demzufolge zur militärischen Ausbildung und nachfolgenden Ableistung unter menschenrechtswidrigen Bedingungen einberufen zu werden. [...]