OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17.08.2023 - 4 LB 145/20 (Asylmagazin 12/2023, S. 416 ff.) - asyl.net: M31863
https://www.asyl.net/rsdb/m31863
Leitsatz:

Kein Schutzstatus für jungen Menschen aus Eritrea:

1. Die Heranziehung zum Nationaldienst, eine mögliche Sanktionierung wegen Entziehung vom Nationaldienst und die unerlaubte Ausreise begründen keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungssituation. Diese Situation führt auch nicht dazu, dass der eritreische Staat eine politische Gegner*innenschaft unterstellt.

2. Der subsidiäre Schutzstatus ist nicht zu gewähren, weil die Möglichkeit besteht, den Diasporastatus zu erlangen und somit einer Strafverfolgung zu entgehen. Insbesondere ist es zumutbar, die Aufbausteuer zu zahlen, wenn keine besonderen Umstände zur finanziellen Situation vorgetragen wurden. Auch die Abgabe der Reueerklärung ist grundsätzlich zumutbar, wenn eine Person nicht weitere Umstände vorträgt, warum es ihr nicht möglich ist, eine solche abzugeben. Zudem stellt die Reueerklärung kein Geständnis o.ä. dar, sondern lediglich eine Loyalitätsbekundung. Diese Grundsätze stehen nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerwG zur Zumutbarkeit der Erlangung eines eritreischen Passes.

3. Misshandlungen, Folter und unmenschliche Behandlung in der Grundausbildung und dem militärischen Teil des Nationaldienstes sind nicht derart flächendeckend und systematisch, dass von einem drohenden ernsthaften Schaden gemäß Art. 4 Abs. 1 AsylG auszugehen wäre.

(Leitsätze der Redaktion; a.A.: OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.07.2023 - 4 LB 8/23 (Asylmagazin 9/2023, S. 305 ff.) - asyl.net: M31749; siehe zur Zumutbarkeit der Passbeschaffung: BVerwG, Urteil vom 11.10.2022 - 1 C 9.21 (Asylmagazin 4/2023, S. 100 ff.) - asyl.net: M30993)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Eritrea, Mitwirkungspflicht, Reueerklärung, Zumutbarkeit, Diasporasteuer, staatsbürgerliche Pflicht, Mitwirkungshandlung, Botschaft, Auslandsvertretung, Qualifikationsrichtlinie, Nationaldienst, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthV § 5
Auszüge:

[...]

Eritreische Staatsangehörige, die noch keinen Nationaldienst geleistet haben, müssen bei der Beantragung konsularischer Dienstleistungen eine sogenannte Reueerklärung ("Immigration and Citizenship Service Request Form" oder "Formular 4/4.2") abgeben. Damit erklärt der Betroffene, dass er die Nichtableistung des Nationaldienstes bedauert und eine eventuell verhängte Sanktion akzeptiert. Die Übersetzung der entsprechenden Stelle aus dem Tigrinya lautet: "Ich bestätige, dass ich es bereue, eine Straftat begangen zu haben, indem ich den Nationaldienst nicht abgeschlossen habe und erkläre mich bereit, die entsprechende Strafe in der entsprechenden Frist anzunehmen." Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist dieser Text als Ermahnung zu verstehen und führt die Unterschrift nicht zu einer Verschlechterung der Rechtsposition des Unterzeichners. Es sei kein einziger Fall bekannt, in dem die Unterzeichnung der Reueerklärung für den betroffenen Ausländer zu Nachteilen geführt habe. Die Verhängung von Sanktionen gegen seine Bürger sei dem Staat ohnehin jederzeit möglich und nicht von einer Zustimmung in Form einer Reueerklärung abhängig. In diesem Sinne haben sich in der Vergangenheit auch eritreische Regierungsvertreter geäußert. Dienstflucht durch illegale Ausreise wird regelmäßig nach Ablauf von drei Jahren nicht mehr geahndet. Im Umgang mit freiwilligen Rückkehrern aus der Diaspora werden die strafrechtlichen Bestimmungen zu Desertion, Dienstverweigerung und illegaler Ausreise nicht angewendet. Es ist davon auszugehen, dass diese Personengruppe in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht verfolgt wird. [...]

8. Dem Kläger ist auch kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen. [...]

8.3. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz kommt schließlich nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Betracht. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Eritrea nicht mit dem rechtlich erforderlichen Maß an Wahrscheinlichkeit Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. [...]

8.4.1. Der Kläger kann als ein langjährig im Ausland lebender eritreischer Staatsangehöriger den Diasporastatus erlangen, der ihn vor Strafverfolgung und für die Dauer von bis zu einem Jahr nach endgültiger Wiedereinreise vor der Einziehung in den Nationaldienst schützt. Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass die Entziehung vom Nationaldienst durch Ausreise aus Eritrea im Allgemeinen schon nach drei Jahren Auslandsaufenthalt nicht mehr geahndet wird, wobei Ausnahmen jedoch möglich sind. [...]

Bei der anzustellenden Gefahrenprognose geht das Gericht davon aus, dass der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Eritrea zwar noch nicht zum Nationaldienst einberufen worden war, den Nationaldienst aber noch nicht abgeleistet hatte und die Ausreise daher rechtswidrig war. Zugunsten des Klägers unterstellt das Gericht ferner, dass er und seine Familie keine privilegierten Beziehungen zum eritreischen Regime unterhalten. Der Kläger trägt selbst nicht vor, sich in Eritrea oder im Ausland oppositionell gegen die eritreische Regierung betätigt zu haben, auch dieser Umstand ist bei der Gefahreneinschätzung zu berücksichtigen. Schließlich beinhaltet eine realitätsnahe Rückkehrsituation die Annahme, dass der Kläger zumindest vorübergehend den Diasporastatus erlangt und dafür die sogenannte Aufbausteuer entrichtet und die sogenannte Reueerklärung unterschreibt. Das Risiko einer zwangsweisen Rückführung würde der Kläger vernünftigerweise nicht eingehen. [...]

8.4.2. Es ist dem Kläger auch zumutbar, den Diasporastatus zu erlangen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist rechtsgrundsätzlich geklärt, dass Schutzsuchende, die durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung oder sonstige im Zielstaat drohenden Gefahren abwenden können, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbotes verlangen können. Es bedarf derjenige des Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland nicht, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Herkunftsstaat durch zumutbares eigenes Verhalten, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in diesen Staat gehört, abwenden kann. Zur Beurteilung der Zumutbarkeit des Vermeidungsverhaltens sind objektive Zumutbarkeitsgesichtspunkte heranzuziehen. Erforderlich ist eine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung der für und gegen die Zumutbarkeit streitenden objektiven Gesichtspunkte (BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 - BVerwGE 104, 265 <278> und Beschluss vom 19. April 2018 - 1 B 8.18 - juris Rn. 17 m.w.N.). [...]

Dieser Maßstab lässt sich auf die hier zu entscheidende Frage übertragen, ob es dem Kläger flüchtlingsrechtlich zuzumuten ist, einen drohenden ernsthaften Schaden wegen einer Entziehung vom Nationaldienst dadurch abzuwenden, dass er nach Zahlung der sogenannten Aufbausteuer und Unterzeichnung der sogenannten Reueerklärung den Diasporastatus erwirbt. Maßgeblich ist, ob die mit diesen Handlungen verbundenen Rechtsgutbeeinträchtigungen nach Art und Ausmaß den Grad einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gemäß § 3a Abs. 1 AsylG oder eines ernsthaften Schadens gemäß § 4 Abs. 1 AsylG erreichen. Das ist vorliegend nicht der Fall. Die rechtlichen und tatsächlichen Nachteile für den Kläger kommen nach den oben gemachten Feststellungen nach Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung nicht gleich. [...]

Dem Kläger ist auch die Abgabe der Reueerklärung zuzumuten. Der Kläger hat nicht erklärt, dass und aus welchen Gründen er diese Erklärung nicht abgeben will. Eine Unzumutbarkeit ergibt sich auch nicht aus den generellen Umständen der Erklärung. Die Abgabe der sogenannten Reueerklärung ist eritreischen Staatsangehörigen flüchtlingsrechtlich nicht allgemein unzumutbar.

Bei der sogenannten Reueerklärung handelt es sich um eine formularmäßige Erklärung, in der der Unterzeichner sein Bedauern darüber zum Ausdruck bringt, dass er seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen ist, und erklärt, dass er eine gegebenenfalls verhängte Strafe akzeptiert. Das Auswärtige Amt ist der Auffassung, dass der Text als staatliche Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (Auswärtiges Amt, 03.01.2022, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, S. 25). Die Erklärung wird zur Überzeugung des Gerichts von den Auslandseritreern in der Regel auch in diesem Sinne verstanden. In den letzten Jahren sind durchschnittlich jeweils 95.000 im Ausland lebende Eritreer unter Ausnutzung ihres Diasporastatus nach Eritrea eingereist (EASO, 01.09.2019, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, S. 63). Diese beachtliche Zahl spricht für die Annahme, dass die Unterzeichnung der Reueerklärung und die anschließende Erlangung des Diasporastatus in der eritreischen Lebenswirklichkeit nicht mit Nachteilen verbunden sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass eritreische Staatsangehörige aufgrund ihrer überlegenen Kenntnis der Verhältnisse im Herkunftsland die mit der Reueerklärung verbundenen Gefahren und Nachteile am besten einschätzen können. Wenn dieser Personenkreis über einen längeren Zeitraum in großer Zahl von einem staatlich eingerichteten Rückkehrverfahren Gebrauch macht, spricht dieser Umstand dafür, dass er das Verfahren für sich als zumutbar und sicher empfindet. Der eritreische Staat geht im Inland öffentlich und mit großer Härte gegen die Entziehung aus dem Nationaldienst und die illegale Ausreise seiner Staatsangehörigen vor. Auch um sein Gesicht zu wahren, verlangt er von den Eritreern, die durch ihre Ausreise gegen die entsprechenden Vorschriften verstoßen haben und deshalb im Gegensatz zu den inländischen Staatsangehörigen gleichwohl nicht sanktioniert werden sollen, eine symbolische Geste der Unterwerfung. Der eritreische Staat ist sich dabei bewusst, dass diese Erklärung weder freiwillig abgegeben wird noch der Überzeugung des Betroffenen entspricht.

Das Gericht verkennt nicht, dass ein Zwang, durch selbstbelastendes Verhalten zur eigenen strafrechtlichen Verurteilung beitragen zu müssen, mit der Menschenwürdegarantie unvereinbar wäre. [...]

Die Reueerklärung stellt jedoch keine Selbstbelastung in diesem Sinne dar. Die Selbstbelastungsfreiheit bezieht sich auf ein Verhalten, das für eine strafrechtliche Verurteilung kausal werden kann, weil es die Verurteilung erst ermöglicht oder im Sinne einer Mitverursachung zu ihr beiträgt. [...]

Der Erklärungsgehalt des vorformulierten Textes enthält kein Eingeständnis eines konkreten Tatvorwurfs, sondern nach dem gemeinsamen Verständnis von Unterzeichner und Empfänger des Formulars lediglich eine Anerkennung der eritreischen Rechtsordnung und eine Unterwerfung unter diese. Eine solche entwürdigende und demütigende Kommunikation zwischen Herrschenden und Beherrschten ist charakteristisch für kollektivistisch-autoritäre Regime. Die Reueerklärung ist jedoch keine Selbstbelastung im strafprozessualen Sinne. Sie wird weder im Rahmen eines Strafverfahrens abgegeben, noch wird sie Gegenstand eines solchen Verfahrens und trägt zu einer Verurteilung des Unterzeichners bei. Eine konkrete, nach Ort, Zeit und Begehungsweise bestimmte strafbare Handlung wird in der Erklärung auch nicht benannt. Die Tatsache, dass sich der Ausländer seiner Nationaldienstpflicht entzogen hat, ist dem eritreischen Staat offensichtlich auch ohne die Erklärung bekannt. [...]

Nach alledem sprechen vor allem Gesichtspunkte der persönlichen Ehre gegen die Zumutbarkeit der Abgabe der sogenannten Reueerklärung. Der Kläger ist dadurch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht rechtlich betroffen. Dieses Grundrecht schützt zusammen mit weiteren Aspekten des sozialen Geltungsanspruchs des Klägers auch dessen Ehre (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. August 2010 - 1 BvR 2585/06 - juris Rn. 21). Der betroffene Ausländer wird von seinem Herkunftsstaat zu einem Reuebekenntnis, einer Loyalitätsbekundung und zur ausdrücklichen Anerkennung seiner Strafgewalt gezwungen. Darin liegt angesichts des autoritären und undemokratischen Charakters des eritreischen Herrschaftssystems eine Herabsetzung des Unterzeichners. Dieser Aspekt genügt im Rahmen einer Gesamtwürdigung jedoch nicht ohne das Hinzutreten weiterer Umstände zur Annahme der Unzumutbarkeit, zumal jedem verständigen eritreischen Staatsangehörigen in der Position eines objektiven Dritten klar sein muss, dass die Klausel nicht ernst gemeint ist, dem Willen des Unterzeichners widerspricht und in einer Zwangslage abgegeben wurde, um die formalen Voraussetzungen zur Erlangung des Diasporastatus zu erfüllen. Der Eingriff in die Ehre und den sozialen Geltungsanspruch des Klägers erweist sich nach alledem nicht als so schwerwiegend und gravierend, dass er nach Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommt.

8.4.3. Diese Annahmen stehen nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zumutbarkeit der Erlangung eines eritreischen Passes oder Passersatzes gemäß § 5 Abs. 1 und 2 AufenthV (BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2022 - 1 C 9.21 - juris). Das Bundesverwaltungsgericht ist für diese Entscheidung von einem anderen rechtlichen Maßstab ausgegangen. Dieser Maßstab lässt sich auf die hier zu entscheidende Frage, nach welchen Maßstäben sich flüchtlingsrechtlich die Zumutbarkeit einer freiwilligen Rückkehr des Ausländers bestimmen lässt, nicht übertragen (anders OVG Lüneburg, Urteil vom 18. Juli 2023 - 4 LB 8/23 - juris Rn. 78). Die aufenthaltsrechtliche Beurteilung der Zumutbarkeit erforderte eine Abwägung der Interessen des Ausländers unter Beachtung seiner Grundrechte und der Werteordnung des Grundgesetzes einerseits mit den staatlichen Interessen, insbesondere der dadurch geforderten Rücksichtnahme auf die Personalhoheit des Herkunftsstaates, andererseits (BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2022 - 1 C 9.21 - juris Rn. 10). In diese Abwägung waren die grundrechtlich geschützte Ausreisefreiheit des als schutzberechtigt anerkannten Ausländers und der Umstand einzustellen, dass für diesen mit Tatbestandswirkung festgestellt war, dass ihm wegen der illegalen Ausreise und der Entziehung vom Nationaldienst in Eritrea eine Strafverfolgung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Diese Abwägungsgrundsätze unterscheiden sich strukturell von der flüchtlingsrechtlichen Frage der Subsidiarität der Schutzgewährung. Soweit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Annahme zugrunde liegt, in der Abgabe der Reueerklärung liege neben einem Loyalitätsbekenntnis zugleich auch eine unzulässige Selbstbelastung, beruht diese auf einer gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellung des Berufungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2022 - 1 C 9.21 - juris Rn. 10). Dieser Feststellung schließt sich das erkennende Gericht ausdrücklich nicht an. [...]

Die ausgewerteten Erkenntnismittel kommen allerdings übereinstimmend zu der Einschätzung, dass im militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden (Auswärtiges Amt, 03.01.2022, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, S. 15). Es gibt Berichte über Folter und unmenschliche und erniedrigende Strafen wie Nahrungsentzug und Aussetzen extremer Hitze (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 19.05.2021, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Eritrea, S. 11). Die Disziplinarmaßnahmen im Militär erfolgen willkürlich und sind häufig sehr hart. Es wird davon berichtet, dass Rekruten geschlagen oder stunden- und tagelang gefesselt werden. Die meisten militärischen Einrichtungen verfügen über eigene Gefängnisse, in denen prekäre hygienische und medizinische Bedingungen herrschen und die Versorgung mit Nahrungsmitteln unzureichend ist. Die Anforderungen bei militärischen Übungen werden als überdurchschnittlich hoch beschrieben. Die Gewährung von Urlaub ist nicht geregelt und erfolgt häufig willkürlich. Viele weibliche Rekruten werden im militärischen Teil des Nationaldienstes Opfer von sexuellem Missbrauch (UK Home Office, 08.09.2021, Eritrea National Service and illegal exit, S. 37 f.).

Das Gericht sieht jedoch keine hinreichenden Belege dafür, dass die Misshandlungen in der Grundausbildung und im militärischen Teil des Nationaldienstes so flächendeckend und systematisch sind, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen ernsthaften Schaden sprechenden Umstände vorliegend ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (ebenso Bundesverwaltungsgericht (Schweiz), Urteil vom 10. Juli 2018 - E-5022/2017 - S. 36; anders Raad van State (Niederlande), Entscheidung vom 20. Juli 2022 -202101479/1/V2 [ECLI:NL:RVS:2022:2017] - Rn. 14 für den Fall eines eritreischen Staatsangehörigen, der nie in Eritrea gelebt hatte). [...]

9.1.3. Nach diesen rechtlichen Maßstäben und unter Zugrundelegung dieser tatsächlichen Annahmen kann das Gericht nicht feststellen, dass der Kläger im Fall der Rückkehr nach Eritrea wegen der dortigen humanitären Situation der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.

Der Kläger gehört keiner besonders schutzbedürftigen Personengruppe an. Er ist gesund und arbeitsfähig. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass der Kläger durchsetzungsfähig ist. Der Kläger gehört der in Eritrea dominierenden Volksgruppe der Tigrinya an, die nicht diskriminiert wird. Angesichts der Erwerbsquote in Eritrea und der Fähigkeiten des Klägers geht das Gericht davon aus, dass er in seinem Heimatland eine bezahlte Tätigkeit finden könnte. Darüber hinaus hat der Kläger Familienangehörige in Eritrea, bei denen er Unterkunft und Unterstützung bei der Rückkehr finden könnte. Weitere Familienangehörige des Klägers leben im Ausland. Dies rechtfertigt die Annahme, dass die Familie des Klägers auch von dieser Seite Unterstützung finden kann. Schließlich geht das Gericht davon aus, dass der Kläger bei einer freiwilligen Ausreise im Rahmen des REAG/GARP-Programms Rückkehrhilfen erhalten würde (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Merkblatt zur Refinanzierung freiwilliger Ausreisen nach Afghanistan, Eritrea, Jemen, Libyen und Syrien 2023) und er auch auf diese Weise in der Lage wäre, seine elementarsten Bedürfnisse für einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. […]