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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.06.2023 - 1 C 10.22 (Asylmagazin 12/2023, S. 450 ff.) - asyl.net: M31858
https://www.asyl.net/rsdb/m31858
Leitsatz:

Zum Begriff der Durchsuchung im Rahmen von Abschiebungen aus Aufnahmeeinrichtung:

"1. Ein in einer Aufnahmeeinrichtung (§ 47 Abs. 1 AsylG) dem Ausländer zugewiesenes Zimmer ist in der Regel eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG.

2. Die Durchsuchung einer Wohnung (Art. 13 Abs. 2 GG) erschöpft sich nicht in deren Betreten, sondern umfasst als zweites Element die Vornahme von Handlungen in den Räumen [...].

3. Betreten behördliche Bedienstete eine Wohnung zum Zwecke der Durchführung einer Überstellung nach Art. 29 VO (EU) Nr. 604/2013 [Dublin-III-VO], kann dies nach Art. 13 Abs. 7 GG zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verfassungsrechtlich zulässig sein."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufnahmeeinrichtung, Wohnung, Wohnungsdurchsuchung, Betreten, Überstellung, Abschiebung,
Normen: GG Art. 13 Abs. 2, GG Art. 13 Abs. 7, VO 604/2013 Art. 29,
Auszüge:

[...]

2. Ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Berufungsgericht dabei angenommen, dass es sich bei dem Zimmer, das dem Kläger in der Aufnahmeeinrichtung zugewiesen war, um eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG handelte (a). Die getroffenen Maßnahmen stellten aber keine Durchsuchung dieser Wohnung dar, sodass eine vorherige richterliche Anordnung (Art. 13 Abs. 2 GG) nicht erforderlich war (b). Das im Streit stehende Vorgehen der Bediensteten des Beklagten war nach Art. 13 Abs. 7 GG verfassungsrechtlich zulässig (c).

a) Bei dem von dem Kläger am 20. Juni 2018 mitgenutzten Zimmer in der Aufnahmeeinrichtung … handelt es sich um eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG.

aa) Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird den Einzelnen im Hinblick auf ihre Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. [...]

bb) Wer Träger des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG ist, entscheidet sich nicht nach der Eigentumslage, sondern grundsätzlich danach, wer Nutzungsberechtigter der im jeweiligen Einzelfall betroffenen Wohnung ist [...], unabhängig davon, auf welchen Rechtsverhältnissen die Nutzung beruht [...].

In diesem Sinne Nutzungsberechtigter ist bei einem Zimmer in einer Aufnahmeeinrichtung der Ausländer, dem das Zimmer zur alleinigen Nutzung oder zur Mitnutzung zugewiesen wurde. Er ist nicht nur dazu verpflichtet, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen [...], sondern – wie der Verwaltungsgerichtshof in Anwendung irrevisiblen Landesrechts [...] erkannt hat – während des für die Dauer der Erstaufnahme bestehenden öffentlich-rechtlichen Nutzungsverhältnisses auch berechtigt, die ihm in der Einrichtung zugewiesene Unterkunft als privaten Rückzugsraum zu widmen und zu nutzen. [...]

cc) Hieran gemessen stellte das dem Kläger in der Aufnahmeeinrichtung … zur Mitnutzung zugewiesene Zimmer eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG dar. Nach den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs hat der Kläger als der für den zugewiesenen Raum Nutzungsberechtigte diesen ausdrücklich oder konkludent zum Rückzugsbereich der privaten Lebensgestaltung in dem Sinne gemacht, dass ihm dort ein abgrenzbarer elementarer Lebensraum und ein Mindestmaß an persönlicher Sphäre zur Verfügung stand.

b) Die mit der Klage angegriffenen Maßnahmen stellten keine Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG) der Wohnung des Klägers dar und bedurften daher keiner vorherigen richterlichen Anordnung.

aa) Eine Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung nicht von sich aus offenlegen oder herausgeben will (BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2020 - 2 BvE 2/19 - BVerfGE 154, 354 Rn. 33 m. w. N.). Die Durchsuchung erschöpft sich nicht in einem Betreten der Wohnung, sondern umfasst als zweites Element die Vornahme von Handlungen in den Räumen (BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1987 - 1 BvR 1202/84 - BVerfGE 76, 83 <89>). Die gesetzlich zulässigen Durchsuchungen dienen als Mittel zum Auffinden und Ergreifen einer Person, zum Auffinden, Sicherstellen oder zur Beschlagnahme einer Sache oder zur Verfolgung von Spuren. Begriffsmerkmal der Durchsuchung ist somit die Suche nach Personen oder Sachen oder die Ermittlung eines Sachverhalts in einer Wohnung. Eine solche Maßnahme ist mit dem Betreten einer Wohnung durch Träger hoheitlicher Gewalt nicht notwendigerweise verbunden. Eine Wohnung kann auch zur Vornahme anderer Amtshandlungen betreten werden. So ist beispielsweise die Besichtigung einer Wohnung zur Feststellung, ob der Inhaber seinen Beruf ordnungsgemäß ausübt, keine Durchsuchung der Wohnung. Kennzeichnend für die Durchsuchung ist demgegenüber die Absicht, etwas nicht klar zutage Liegendes, vielleicht Verborgenes aufzudecken oder ein Geheimnis zu lüften, mithin das Ausforschen eines für die freie Entfaltung der Persönlichkeit wesentlichen Lebensbereichs, das unter Umständen bis in die Intimsphäre des Betroffenen dringen kann. Demgemäß macht die beim Betreten einer Wohnung unvermeidliche Kenntnisnahme von Personen, Sachen und Zuständen den Eingriff in die Wohnungsfreiheit noch nicht zu einer Durchsuchung. Auch die bloße Aufforderung an die sich in einer Wohnung aufhaltenden Personen, den Raum zu verlassen, stellt keine Durchsuchung der Wohnung dar, weil damit die öffentliche Gewalt nicht in der für Durchsuchungen typischen Weise in das private Leben des Bürgers und in die räumliche Sphäre, in der es sich entfaltet, eindringt (BVerwG, Urteile vom 6. September 1974 - 1 C 17.73 - BVerwGE 47, 31 <35 ff.> und vom 25. August 2004 - 6 C 26.03 - BVerwGE 121, 345 <349>).

Nicht zu folgen ist der Auffassung der Revision, von einem insoweit einzunehmenden ex-ante-Standpunkt aus sei stets allein auf den Zweck des Auffindens einer Person abzustellen, unabhängig davon, ob auch nur die geringste Suchhandlung stattgefunden hat (vgl. in diesem Sinne OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. März 2021 - OVG 3 M 143/20 u. a. - juris, dort auch zum mit Art. 13 Abs. 2 GG übereinstimmenden Begriff der Durchsuchung im Sinne von § 58 Abs. 6 AufenthG; OVG Hamburg, Urteil vom 18. August 2020 - 4 Bf 160/19 - NVwZ-RR 2021, 322). Ein derartiges Verständnis ebnete die vom Verfassungsgeber mit Blick auf die unterschiedliche Eingriffsintensität nach Art. 13 Abs. 2 und 7 GG vorgenommene Unterscheidung zwischen Betreten und Durchsuchen ein. [...]

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass es im Rahmen der Wahrnehmung von Aufgaben der Verwaltungsvollstreckung jeweils von den Gegebenheiten des Einzelfalls abhängen kann, ob eine Behörde eine Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG durchführen muss. Wenn die Behörde mit der Durchführung einer Abschiebung oder einer anderen Vollstreckungsmaßnahme beginnt, ohne zuvor eine richterliche Durchsuchungsanordnung beantragt zu haben, geht sie das Risiko ein, die Maßnahme vor Ort abbrechen zu müssen, weil es sich als erforderlich erweist, eine Durchsuchung durchführen zu müssen.

bb) Nach diesen Maßstäben und auf der Grundlage der bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist es in der Nacht des 20. Juni 2018 zu keinem Zeitpunkt zu einer Durchsuchung des dem Kläger zur Nutzung zugewiesenen Zimmers in der Aufnahmeeinrichtung Ellwangen gekommen. Dem Blick der Polizeivollzugsbeamten in das dem Kläger zugewiesene Zimmer (erster Handlungsabschnitt) fehlte es am Merkmal der ziel- und zweckgerichteten Suche nach Personen oder Sachen, die sich im Verborgenen aufhalten; insoweit blieb es bei einer bloßen Kenntnisnahme der tatsächlichen Gegebenheiten. Der – verwirklichte – Zweck des Betretens des Zimmers durch die Beamten in Begleitung des Klägers (zweiter Handlungsabschnitt) erschöpft sich in der dort stattfindenden Entgegennahme der Identitätspapiere, die sich nach den Angaben des Klägers dort befinden sollten und die der zu diesem Zeitpunkt noch kooperative Kläger auf Aufforderung selbst ausgehändigt hat. Auch insoweit mangelt es an einer behördlichen Suchhandlung.

c) Im Ergebnis zu Recht (§ 144 Abs. 4 VwGO) hat der Verwaltungsgerichtshof angenommen, dass die mit der Klage angegriffenen Maßnahmen verfassungsrechtlich zulässig waren.

aa) Diese bemessen sich allerdings nicht nach den Grundsätzen, die für das Betreten von Betriebs- und Geschäftsräumen gelten. [...]

bb) Die Maßnahmen waren indes nach Art. 13 Abs. 7 GG zulässig. Danach dürfen Eingriffe und Beschränkungen in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung unter anderem aufgrund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorgenommen werden. Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf die angegriffenen Maßnahmen erfüllt.

Die hiernach erforderliche dringende Gefahr besteht nicht schon bei einer bevorstehenden oder drohenden Gefahr im polizeirechtlichen Sinne, aber auch nicht erst bei einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr. Die dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung braucht nicht bereits eingetreten zu sein. Es genügt, dass die Beschränkung des Grundrechts dem Zweck dient, einen Zustand nicht eintreten zu lassen, der seinerseits eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen würde. Eine dringende Gefahr im Sinne des Art. 13 Abs. 7 GG liegt daher vor, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiven zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein wichtiges Rechtsgut schädigen wird; dabei ist mit der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine große Bandbreite von Schutzgütern angesprochen. [...] Aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergibt sich ferner, dass in die Wohnungsfreiheit nur eingegriffen werden darf, wenn und soweit die Maßnahme zur Gefahrenabwehr geeignet und erforderlich ist, und dass im Einzelfall die rechtsstaatliche Bedeutung der Unverletzlichkeit der Wohnung mit dem öffentlichen Interesse an der Wahrung von Recht und Ordnung abgewogen werden muss [...].

cc) Die erforderliche spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. März 2018 - 2 BvR 253/18 - NJW 2018, 2185 Rn. 21) ist mit dem Verwaltungsgerichtshof in § 6 Abs. 1 Satz 1 LVwVG BW zu sehen. Danach ist der Vollstreckungsbeamte befugt, das Besitztum des Pflichtigen zu betreten, soweit der Zweck der Vollstreckung dies erfordert. Die Vorschrift genügt den verfassungsrechtlichen Bestimmungsanforderungen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10 - BVerfGE 130, 1 <32>), da sie für das Betreten der Wohnung eine Erforderlichkeit nach dem Zweck der Vollstreckung verlangt. [...]

dd) Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs lag hier eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor. Ohne die angegriffenen Maßnahmen wäre die für den 20. Juni 2018 vorgesehene Überstellung des Klägers nach Italien nicht möglich gewesen. Deren Fehlschlag hätte zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung mehrerer Rechtsgüter geführt. Er hätte nicht nur die Durchführung der nach § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i. V. m. § 34a Abs. 1 AsylG gesetzlich gebotenen und nicht ins Ermessen des Beklagten gestellten Abschiebung verhindert. Vielmehr bestand darüber hinaus die Gefahr, dass der Beklagte seinen unmittelbar aus dem Unionsrecht folgenden Pflichten nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 S. 31 - VO (EU) Nr. 604/2013), namentlich deren Art. 29, nicht hätte nachkommen können. [...]

Bei den genannten Zielsetzungen handelt es sich um Elemente der gemeinsamen Asylpolitik der Mitgliedstaaten und damit eines wesentlichen Bestandteils des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offensteht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen (vgl. den zweiten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013). Damit droht bei einem Fehlschlag einer Überstellung auf der Grundlage von Art. 29 VO (EU) Nr. 604/2013 eine Beeinträchtigung erheblicher Rechtsgüter von hohem Rang.

ee) Die angegriffenen Maßnahmen wurden zur Verhütung einer dringenden Gefahr für die genannten Rechtsgüter und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorgenommen. Wären sie unterblieben, hätte dies zum Scheitern der rechtlich gebotenen Aufenthaltsbeendigung des Klägers und damit zugleich dazu geführt, dass die Ziele der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 nicht umgesetzt worden wären. Ein fortdauernder Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland hätte eine zügige Bearbeitung des Schutzsuchens des Klägers im zuständigen Mitgliedstaat – Italien – gehindert und dadurch der nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zu verhindernden Sekundärmigration Vorschub geleistet.

ff) Aus den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs ergibt sich, dass der Eingriff in das Wohnungsgrundrecht geeignet und erforderlich war, um die insoweit drohende Schädigung zu verhindern. [...]