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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 15.09.2023 - 3 B 2020/22 - asyl.net: M31851
https://www.asyl.net/rsdb/m31851
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung zur Fortführung einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet nach unerlaubter Einreise:

Die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ist nicht der vom Aufenthaltsgesetz vorgesehene Weg zur Ermöglichung des familiären Zusammenlebens eines Ausländers mit seinen sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen.

Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Duldung, Eheschließung, familiäre Lebensgemeinschaft, Visumsverfahren, Russische Föderation, Abschiebungshindernis, Ehegattennachzug, Schengen-Visum, tatsächliche Unmöglichkeit, unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 14 Abs. 1 Nr.2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr.2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr, 1
Auszüge:

[...]

12 Allein der Wunsch der Antragstellerin, die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehemann dauerhaft im Bundesgebiet aufrechterhalten zu können, rechtfertigt keine Abänderung des angegriffenen Beschlusses. Denn die Aussetzung der Abschiebung ist nicht der vom Aufenthaltsgesetz vorgesehene Weg für die Ermöglichung des familiären Zusammenlebens eines Ausländers mit seinen sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen. Die von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ausgehenden Schutzwirkungen führen nur ausnahmsweise zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wenn eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nicht erteilt werden kann. [...]

15 Die Aussetzung der Abschiebung ist somit nicht der vom Aufenthaltsgesetz vorgesehene Weg zur Ermöglichung des familiären Zusammenlebens eines Ausländers mit seinen sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen. Mithilfe einer Duldung kann die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden, während das hier in Rede stehende Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK in der Regel dauerhaft besteht. Der Duldung kommt nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 9.95 -, juris Rdnr. 36 m.w.N.; so auch VGH Kassel, Beschluss vom 18. August 2016 - 3 B 1431/16 -, nicht veröffentlicht). Zudem vermittelt die Duldung keinen aufenthaltsrechtlichen Status, der dem Anliegen des Familiennachzugs gerecht würde (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997, a.a.O.). Für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kommen daher in der Regel nur vorläufige und kurzfristige Abschiebungshindernisse in Betracht, die nicht gleichzeitig Regelungsgegenstand einer speziellen aufenthaltsrechtlichen Bestimmung sind (VGH Kassel, Beschluss vom 18. August 2016, a.a.O.). Dies steht der Aussetzung der Abschiebung aus einem Grund, der auf einen dauerhaften Aufenthalt hinausläuft, grundsätzlich entgegen (VGH Kassel, Beschluss vom 29. August 2023 - 3 B 1935/22 -, nicht veröffentlicht). [...]

18 Vorliegend besteht im Falle der Antragstellerin ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9, 1. Halbsatz AufenthG. Nach dieser Vorschrift wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift [...].

19 Die Antragstellerin hat mit für das Eilverfahren hinreichender Wahrscheinlichkeit vorsätzlich die Straftatbestände des § 95 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und Nr. 3 AufenthG - die gerade an den unerlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. an die unerlaubte Einreise im Sinne des § 14 Abs. 1 AufenthG anknüpfen - erfüllt, und so nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen Rechtsvorschriften verstoßen. Die Antragstellerin hält sich nicht nur ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet auf, sondern sie ist auch unerlaubt im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in das Bundesgebiet eingereist, weil sie ohne das nach § 6 Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG erforderliche Visum für einen längerfristigen Aufenthalt in das Bundesgebiet eingereist ist. [...]

22 Von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann vorliegend auch nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative AufenthG abgesehen werden, weil die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht hat, dass es ihr aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar wäre, das Visumverfahren nachzuholen. Die vorliegend - aufgrund der mit dem deutschen Staatsangehörigen D. geschlossenen Ehe - in Betracht kommenden Rechtspositionen aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK vermögen eine entsprechende Unzumutbarkeit nicht zu begründen. [...]

26 Soweit die Antragstellerin erstmals mit Schriftsatz vom 16. Januar 2023 geltend macht, dass ihr eine Rückkehr nach Russland zur Durchführung eines Visumverfahrens aufgrund einer bestehenden Gefährdungslage als Folge ihrer beruflichen Tätigkeit im gehobenen Staatsdienst nicht zumutbar sei, ist dieses Vorbringen außerhalb der Beschwerdebegründungsfrist vorgebracht worden. Vorliegend muss nicht entschieden werden, ob dieses neue Vorbringen im Rahmen des Beschwerdeverfahrens berücksichtigt werden kann, da bereits nicht erkennbar ist, weshalb die Tätigkeit im gehobenen Staatsdienst die Antragstellerin hindern sollte, nach Russland zu reisen, um dort ein Visumverfahren durchzuführen. Denn die Antragstellerin war ohne Weiteres in der Lage, ihre für die Eheschließung erforderlichen Unterlagen mit den erforderlichen Apostillen zu versehen, und ist zudem im Besitz eines Schengen-Visums, das ihr mehrere Ein- und Ausreisen in das Schengengebiet ermöglicht. Die pauschale Behauptung, aufgrund ihrer Ausreise gelte die Antragstellerin als "Agentin des Westens", stützt sich auf keinerlei Erkenntnismittel und ist daher nicht ausreichend, um den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. [...]

29 [...] In Bezug auf die tatsächliche Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Abschiebung nach Russland mag es zwar zutreffen, dass derzeit keine Direktflüge aus der Bundesrepublik Deutschland in die Russische Föderation stattfinden. Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 18. August 2023 jedoch geltend gemacht, dass Flüge über Drittländer möglich seien und hierzu vorgetragen, dass das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen im März 2023 bereits zwei erfolgreiche Luftrückführungen über Belgrad nach Moskau durchgeführt habe. [...]