EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 21.09.2023 - C-568/21 - asyl.net: M31842
https://www.asyl.net/rsdb/m31842
Leitsatz:

Zur Auslegung des Begriffs "Aufenthaltstitel" in der Dublin-III-Verordnung:

Ein von einem Mitgliedstaat ausgestellter Diplomat*innenausweis nach dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen ist ein Aufenthaltstitel im Sinne der Dublin-III-Verordnung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Diplomatenausweis, Aufenthaltstitel, Dublinverfahren, Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen
Normen: VO 604/2013 Art. 2 Buchst. l,
Auszüge:

[...]

24 Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Buchst. l der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen, dass ein von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Wiener Übereinkommens ausgestellter Diplomatenausweis ein Aufenthaltstitel im Sinne dieser Bestimmung ist? [...]

34 Die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens und die österreichische Regierung schließen aus dem vom Unionsgesetzgeber verwendeten Wortlaut im Wesentlichen, dass der Begriff "Aufenthaltstitel" nur die von einer nationalen Verwaltung förmlich erlassenen Rechtsakte umfasse, mit denen einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen – konstitutiv – die Erlaubnis erteilt werde, sich im betreffenden Mitgliedstaat aufzuhalten. Umgekehrt könnten Diplomatenausweise wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, auch wenn sie von einer nationalen Verwaltung förmlich ausgestellte Dokumente seien, grundsätzlich nur die ihren Inhabern gemäß dem Wiener Übereinkommen zustehenden Rechte und Privilegien widerspiegeln. Somit hätten sie rein deklaratorischen Charakter und fielen nicht unter den Begriff "Aufenthaltstitel" im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin-III-Verordnung.

35 Insoweit ist zu betonen, dass der Begriff "Aufenthaltstitel" im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin-III-Verordnung, wie sich aus der in dieser Bestimmung verwendeten Formulierung "jede … Erlaubnis" ergibt, weit gefasst ist. Insbesondere nimmt die in dieser Bestimmung enthaltene Definition jenes Begriffs, wie auch der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausführt, weder auf einen konstitutiven oder deklaratorischen Charakter der Erlaubnis Bezug noch schließt sie gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellte Diplomatenausweise ausdrücklich aus. [...]

44 Unter diesen Umständen bringt die Ausstellung eines Diplomatenausweises an eine Person durch einen Mitgliedstaat zum Ausdruck, dass er den Aufenthalt dieser Person in seinem Hoheitsgebiet als Mitglied des diplomatischen Personals einer Mission akzeptiert, und zeigt so die Rolle, die der Mitgliedstaat dabei spielt, dass sich die betreffende Person im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet.

45 Die Auslegung des Begriffs "Aufenthaltstitel" in dem Sinne, dass er einen gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellten Diplomatenausweis umfasst, entspricht auch der allgemeinen Systematik der in den Art. 12 bis 14 der Dublin-III-Verordnung aufgestellten Kriterien, da gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorrangig Art. 12 anzuwenden ist.

46 Was den mit der Dublin-III-Verordnung verfolgten Zweck angeht, betonen deren Erwägungsgründe 4 und 5 die Bedeutung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basiert und eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglicht.

47 Die Berücksichtigung der Ausstellung eines Diplomatenausweises bei der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats trägt zum Ziel der raschen Bearbeitung eines solchen Antrags bei.

48 Wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausführt, würde überdies der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannte Zweck der Dublin-III-Verordnung in Frage gestellt, wenn Drittstaatsangehörige, die Vorrechte und Immunitäten gemäß dem Wiener Übereinkommen genießen, den Mitgliedstaat wählen könnten, in dem sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellen.

49 Jedenfalls betrifft die Tatsache, dass ein Diplomatenausweis als "Aufenthaltstitel" im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin-III-Verordnung eingestuft wird, lediglich die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats und wirkt sich nicht auf das diplomatische Aufenthaltsrecht aus. Außerdem greift eine solche Einstufung der späteren Entscheidung über die etwaige Gewährung internationalen Schutzes durch diesen Mitgliedstaat nicht vor. [...]

53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. l der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Wiener Übereinkommens ausgestellter Diplomatenausweis ein "Aufenthaltstitel" im Sinne dieser Bestimmung ist. Kosten [...]