VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 31.07.2023 - M 15 K 23.30228 (Asylmagazin 10-11/2023, S. 355 f.) - asyl.net: M31824
https://www.asyl.net/rsdb/m31824
Leitsatz:

Frauen droht in Afghanistan geschlechtsspezifische Verfolgung:

Aufgrund systematischer Diskriminierung und massiver Menschenrechtsverstöße droht Frauen in Afghanistan grundsätzlich geschlechtsspezifische Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfolgungshandlung, Taliban, Mädchen, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

15 Die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG liegen hier vor: [...]

18 Im Falle der Klägerin zu 1 ist von einer dieser drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG auszugehen.

19 Bereits vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sahen sich Frauen in Afghanistan – trotz aller vorausgegangenen Reformen – erheblichen gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt [...] und die afghanische Regierung war nicht willens oder in der Lage, Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen [...]. In den Wochen und Monaten nach der Machtübernahme durch die Taliban verkündeten diese zahlreiche Maßnahmen und Verordnungen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen weiter drastisch einschränkten und geradezu aushöhlten, darunter der Zugang zu Beschäftigung und Bildung, das Recht auf friedliche Versammlung und die Bewegungsfreiheit. [...] Aber auch jenseits von Bildung und Arbeit sind Frauen durch Dekrete, willkürliche Bedrohung und Angst weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. [...]

20 Frauen und Mädchen werden wegen Verstößen gegen die diskriminierenden Vorschriften der Taliban willkürlich inhaftiert, öffentliche Proteste von Frauen gegen die Politik der Taliban zum Teil unter massiver Gewaltanwendung aufgelöst. Frauen sind seit dem Vormarsch der Taliban vermehrt Opfer von gezielter und willkürlicher Gewalt geworden. Rechtliche Mittel, die Frauen vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt schützen, gibt es nicht mehr. Die Taliban haben das für die Gewalt gegen Frauen zuständige Gericht geschlossen. Zudem wurden die staatlich geführten wie auch die meisten nicht-staatlichen Frauenhäuser geschlossen. Auch im Übrigen besteht für Frauen seit der Taliban Machtübernahme weitgehend keine Möglichkeit mehr, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen [...].

21 Im Lichte der systemischen und systematischen Diskriminierung von Frauen und Mädchen durch die Taliban, durch die die Hälfte der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan verdrängt wird, muss man von einer der schwerwiegendsten Situationen weltweit mit Blick auf die Rechte von Frauen und Mädchen sprechen; die Dekrete der Taliban stellen massive Menschenrechtsverstöße dar [...].

22 Nach Einschätzung der European Union Agency for Asylum (EUAA) führt die Häufung der verschiedenen von den Taliban eingeführten Maßnahmen, die die Rechte und Freiheiten von Frauen und Mädchen in Afghanistan beeinträchtigen, zu einer Verfolgung. Bei Frauen und Mädchen in Afghanistan sei generell von einer begründeten Furcht vor Verfolgung auszugehen. EU-Länder wie Schweden und Dänemark haben ihre Entscheidungspraxis an diese Einschätzung der EUAA inzwischen angepasst [...]. Auch der Human Rights Council bejaht eine geschlechtsspezifische Verfolgung der Frauen in Afghanistan [...].

23 Die Einzelrichterin teilt diese Einschätzung und geht davon aus, dass Frauen in Afghanistan gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihres Geschlechts droht. Bei der Klägerin kommt hinzu, dass sie im Iran aufgewachsen ist, der im Vergleich zu Afghanistan – insbesondere unter dem jetzigen Taliban-Regime – liberaler ist. Nicht zuletzt ist sie Schiitin. Schiiten werden in Afghanistan im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich weiterhin diskriminiert [...]. Damit dürfte die Klägerin von den genannten Restriktionen der Frauen durch die Taliban überdurchschnittlich betroffen sein [...].