OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.06.2023 - 18 B 285/23 (Asylmagazin 12/2023, S. 447 ff.) - asyl.net: M31821
https://www.asyl.net/rsdb/m31821
Leitsatz:

Zur Anwendbarkeit von § 24 AufenthG auf Drittstaatsangehörige mit befristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine:

Von dem Durchführungsbeschluss des Rates der Europäischen Union sind nur die Gruppen umfasst, die in Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses genannt sind. Eine Ausweitung auf weitere Personengruppen ist nicht unter der Anwendbarkeit von § 24 AufenthG möglich, weil die Möglichkeit der Ausweitung aus Art. 7 Abs. 1 S. 1 RL 2011/55/EG mit § 23 Abs. 3 AufenthG in nationales Recht umgesetzt wurde.

(Leitsätze der Redaktion; in Abkehr zu OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.10.2022 - 18 B 964/22 - asyl.net: M31245)

Schlagwörter: Ukraine, Drittstaatsangehörige, Verfolgungsgrund, befristete Aufenthaltserlaubnis, Kamerun, Massenzustromsrichtlinie
Normen: AufenthG § 24, AufenthG § 23 Abs. 3, RL 2001/55/EG Art. 5, RL 2001/55/EG Art. 7
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der  uropäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. [...]

1. Der Geltungsbereich des § 24 Abs. 1 AufenthG erfasst nur solche Ausländer, denen – vorbehaltlich der nationalen Erklärung der Aufnahmekapazität (siehe dazu die Ausführungen unter 3.) – auf Grund eines Beschlusses des Rates nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG verbindlich vorübergehender Schutz gewährt worden ist. [...]

Abzugrenzen von den Personengruppen, denen aufgrund des Ratsbeschlusses nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG durch die Mitgliedstaaten verbindlich vorübergehender Schutz zu gewähren ist (siehe hierzu den Erwägungsgrund 14 der Richtlinie 2001/55/EG sowie Skordas, in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Auflage 2022, Part D Chapter 19., Art. 5 RL 2001/55/EG Rn. 5 ("binding in its entirety")), sind Gruppen von Vertriebenen nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG. Nach dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten den vorübergehenden Schutz weiteren, von dem Beschluss des Rates nach Art. 5 nicht erfassten Gruppen von Vertriebenen gewähren, sofern diese aus den gleichen Gründen vertrieben wurden und aus demselben Herkunftsland oder derselben Herkunftsregion kommen. Art. 7 Abs. 1 gibt den Mitgliedstaaten damit die Möglichkeit, über das verbindliche Mindestmaß hinaus weitere Personengruppen einzubeziehen, wobei die rechtliche Grundlage hierfür gerade nicht der Ratsbeschluss nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2001/55/EG ist, sondern durch den jeweiligen Mitgliedstaat zu schaffen ist. Dass die Einbeziehung weiterer Personengruppen in den vorübergehenden Schutz auf nationaler Ebene von dem Handeln auf der Grundlage des Ratsbeschlusses klar zu unterscheiden ist, zeigt auch, dass der europäische Solidaritätsmechanismus des Kapitels VI der Richtlinie 2001/55/EG nach Art. 7 Abs. 2 Halbsatz 1 für die Fälle des Abs. 1 gerade nicht greift; mithin hat der Mitgliedstaat die Lasten einer gegenüber dem Ratsbeschluss weiteren Fassung der Personengruppe selbst zu tragen. [...]

Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses zählt die Gruppen von Personen auf, die am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben worden sind und für die der Beschluss gilt: ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten (Buchstabe a), Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben (Buchstabe b) und Familienangehörige der unter den Buchstaben a und b genannten Personen (Buchstabe c). [...]

Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses bestimmt hingegen (nur), dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 7 der Richtlinie 2001/55/EG diesen Beschluss auch auf andere Personen, insbesondere Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine anwenden können, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhielten und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können. Mithin handelt es sich gerade nicht um einen für die Mitgliedstaaten verbindlichen Beschluss nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG [...].

Eine über die Fassung des Beschlusses nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/55/EG hinausreichende Kompetenz des Rates ist in Bezug auf Art. 7 Abs. 1 Satz 1 gerade nicht gegeben. Die Ausdehnung des vorübergehenden Schutzes auf weitere Gruppen von Verfolgten fällt in die Kompetenz der Mitgliedstaaten.

3. Politische oder administrative (Leit-)Entscheidungen oder Hinweise zur Umsetzung des § 24 Abs. 1 AufenthG sind nicht geeignet, weiteren Personenkreisen als denen, welchen durch den Durchführungsbeschluss des Rates nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG unmittelbar vorübergehender Schutz gewährt wird, einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG zu vermitteln. [...]

Eine Ausweitung des nach Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG ergangenen Beschlusses des Rates auf weitere, dort nicht (verbindlich) einbezogene Personengruppen nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2001/55/EG kann hingegen nicht allein in dem für die Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Beschluss der Bundesregierung gesehen werden. Wie oben umfassend ausgeführt, ist § 24 AufenthG geschaffen worden, um die Richtlinie 2001/55/EG in Bezug auf Beschlüsse nach Art. 5 der Richtlinie in nationales Recht umzusetzen; die durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie geschaffene Möglichkeit, weiteren Gruppen von Vertriebenen vorübergehenden Schutz im Sinne der Richtlinie zu gewähren, hat nach dem ausdrücklich formulierten Willen des Gesetzgebers ihre Umsetzung (nur) in § 23 AufenthG gefunden, dessen Abs. 3 – soweit gewollt – für einen Gleichauf des Rechtsregimes Sorge trägt (so auch: Dietz, NVwZ 2022, 505, 506).

Vor diesem Hintergrund kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG für in Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 genannte Personengruppen auch im Hinblick auf das Schreiben des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 14. März 2022 an die für Aufenthaltsrecht zuständigen Ministerien und Senatsverwaltungen der Länder zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung eines Massenzustroms im Sinne des Artikel 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (Aktenzeichen M3-21000/33#6, dort Seite 5, Ziffer 3.) bzw. auf die nachfolgenden Versionen (zuletzt vom 5. September 2022 in der Fassung vom 20. September 2022, dort Seite 6, Ziffer 4.) schon dem Grunde nach nicht in Betracht.

Soweit der Senat in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2022 (– 18 B 964/22 –, juris Rn. 26; anders auch (wenngleich insoweit ohne ausdrückliche Begründung): VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26. Oktober 2022 – 11 S 1467/22 –, juris Rn. 26) eine andere Auffassung vertreten hat, hält er hieran nicht fest. [...]