EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.07.2023 - C-8/22 XXX gg. Belgien - asyl.net: M31814
https://www.asyl.net/rsdb/m31814
Leitsatz:

Zur schweren Straftat und der Gefahr für die Allgemeinheit:

1. Das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit im Mitgliedstaat ist nicht schon allein dadurch erwiesen, dass eine Person wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt wurde.

2. Die Behörde muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls feststellen, dass die Person eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, bevor sie die Flüchtlingseigenschaft aberkennen kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: schwere nichtpolitische Straftat, besonders schwere Straftat, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Flüchtlingseigenschaft,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 14, RL 2011/95/EU Art. 13, RL 2011/95/EU Art. 12
Auszüge:

[...]

27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. [...]

32 Was sodann den Kontext von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrifft, so ist erstens darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung eine Ausnahme von der in Art. 13 dieser Richtlinie aufgestellten Regel bildet, wonach die Mitgliedstaaten jedem Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie ist daher restriktiv auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2018, Ahmed, C-369/17, EU:C:2018:713, Rn. 52).

33 Dass sich der Unionsgesetzgeber dafür entschieden hat, in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sowohl das Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung als auch einer Gefahr für die Allgemeinheit zu nennen, statt nur auf die erste dieser Voraussetzungen abzustellen, darf zweitens nicht außer Acht gelassen werden, da er sich in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie für eine andere Formulierung entschieden und ausdrücklich vorgesehen hat, dass ein Drittstaatsangehöriger von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen ist, wenn er eine schwere nicht politische Straftat außerhalb des Aufnahmelands begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, ohne in irgendeiner Weise zu verlangen, dass dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. [...]

45 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. [...]

46 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und schwere Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist. [...]

48 Erstens ist zur Ermittlung der Tragweite des Begriffs "Gefahr für die Allgemeinheit" im Sinne dieser Bestimmung darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Unionsbürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, und bestimmte Mitglieder seiner Familie nur dann als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden können, wenn ihr individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt (Urteil vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C-381/18 und C-382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

52 Gleichwohl ergibt sich zum einen schon aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass diese Bestimmung nur dann anwendbar ist, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, "darstellt", was darauf hindeutet, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig sein muss. [...]

55 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass insbesondere im Hinblick auf diese Formulierung Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie die Versagung eines Aufenthaltstitels aus zwingenden Gründen der öffentlichen Ordnung nur dann ermöglichen kann, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, T., C-373/13, EU:C:2015:413, Rn. 77 bis 79).

56 Gleichwohl kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Verwendung des Ausdrucks "Gefahr für die Allgemeinheit" anstelle einer Bezugnahme auf die "öffentliche Ordnung" zum Ausdruck bringt, dass ein wesentlich anderer Maßstab als derjenige zugrunde zu legen wäre, der in der in Rn. 48 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung angelegt wurde, da der sowohl in Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 als auch in deren Art. 21 Abs. 2 gewählte Wortlaut, wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Formulierung widerspiegelt, die in Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention verwendet wird. [...]

58 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass nach der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2011/95 schwere Straftaten, die ein Drittstaatsangehöriger begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, die Anwendung der in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussklausel rechtfertigen, während Art. 14 Abs. 4 und Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie es ermöglichen, die gegenwärtige Gefahr zu berücksichtigen, die von einem Drittstaatsangehörigen ausgeht (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, B und D, C-57/09 und C-101/09, EU:C:2010:661, Rn. 101). [...]

60 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Maßnahme nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. [...]

62 In diesem Zusammenhang und insbesondere in Anbetracht dessen, dass Art. 45 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorsieht, dass die Entscheidung der zuständigen Behörde, den internationalen Schutz abzuerkennen, die sachliche und rechtliche Begründung enthält, auf der diese Entscheidung beruht, muss die zuständige Behörde über alle relevanten Informationen verfügen und anhand dieser Informationen ihre eigene Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Einzelfalls vornehmen, um den Inhalt ihrer Entscheidung zu bestimmen und diese umfassend zu begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C-159/21, EU:C:2022:708, Rn. 80).

63 Im Rahmen der Umstände, die bei der Würdigung dessen zu berücksichtigen sind, ob eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist es – auch wenn in der Regel die Feststellung einer ein Grundinteresse der Gesellschaft berührenden tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr eine Neigung des Betroffenen impliziert, das Verhalten, das diese Gefahr darstellt, in Zukunft beizubehalten – auch möglich, dass allein das frühere Verhalten den Tatbestand einer solchen Gefahr erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C-331/16 und C-366/16, EU:C:2018:296, Rn. 56). Dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, ist von besonderer Bedeutung, da der Unionsgesetzgeber speziell auf eine solche Verurteilung Bezug genommen hat und diese je nach den Umständen der Begehung dieser Straftat dazu beitragen kann, das Bestehen einer tatsächlichen und erheblichen Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats zu belegen.

64 Was insbesondere die Gegenwärtigkeit einer solchen Gefahr betrifft, so ergibt sich jedoch sowohl aus der Antwort auf die erste Frage als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass aus den Vorstrafen des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht automatisch geschlossen werden kann, dass dieser Adressat der in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Maßnahme sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2016, CS, C-304/14, EU:C:2016:674, Rn. 41). Je später also eine Entscheidung gemäß dieser Bestimmung nach der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat getroffen wird, desto mehr obliegt es der zuständigen Behörde, namentlich die Entwicklungen nach der Begehung einer solchen Straftat zu berücksichtigen, um festzustellen, ob eine tatsächliche und erhebliche Gefahr zu demjenigen Zeitpunkt besteht, zu dem diese Behörde über die etwaige Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu befinden hat. [...]

67 Von dieser Möglichkeit ist insbesondere unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Gebrauch zu machen, der eine Abwägung der Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, gegen die Rechte beinhaltet, die gemäß dieser Richtlinie den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C-331/16 und C-366/16, EU:C:2018:296, Rn. 62, vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C-381/18 und C-382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 64, sowie vom 9. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. [Entzug des Aufenthaltsrechts eines türkischen Arbeitnehmers], C-402/21, EU:C:2023:77, Rn. 72).

68 Im Rahmen dieser Würdigung muss die zuständige Behörde auch den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten Rechnung tragen und insbesondere die Möglichkeit prüfen, andere, die Flüchtlings- und Grundrechte weniger beeinträchtigende Maßnahmen zu ergreifen, die die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, ebenso wirksam schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C-331/16 und C-366/16, EU:C:2018:296, Rn. 63 und 64). [...]

71 Folglich ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist. [...]