Elternnachzug zu bereits volljährigem Sohn:
1. Der Familiennachzug eines Vaters zu seinem als Flüchtling anerkannten Sohn ist auch nach Eintritt der Volljährigkeit weiterhin möglich, soweit die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Asylantragstellung bestand und der Antrag auf Familiennachzug drei Monate nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt wurde.
2. Die Bestellung eines Vormunds steht dem Familiennachzug nicht entgegen. Sinn und Zweck der Vormundschaft ist es, den Minderjährigen die Teilnahme am Rechtsverkehr zu ermöglichen. Die Eltern sollen hingegen nicht dauerhaft von ihrer elterlichen Sorge ausgeschlossen werden.
(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 26.07.2017 - C-670/16 Mengesteab gg. Deutschland (Asylmagazin 9/2017, S. 357 ff.) - asyl.net: M25274)
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1 Der im Jahr 1953 geborene syrische Kläger begehrt die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu seinem im ... 2001 geborenen jüngsten Sohn.
2 Er hat sechs in den Jahren 1987 bis 2001 geborene Söhne, die alle in Deutschland leben. Der damals 14-jährige jüngste Sohn des Klägers (im Folgenden auch: Stammberechtigter) reiste im ... 2015 gemeinsam mit einem weiteren, im ... 1997 geborenen und damit damals 18-jährigen Sohn des Klägers nach Deutschland ein. Mit Beschluss des Amtsgerichts Halberstadt vom 3. November 2015 wurde der volljährige Sohn zum Vormund des Stammberechtigten bestellt. [...]
18 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als "Minderjähriger" im Sinne dieser Bestimmungen anzusehen ist. [...]
19 Demnach kommt es für die Frage der Minderjährigkeit im Sinne von Art. 2 Buchst. f, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung im Sinne des Unionsrechts [...] an. [...]
20 § 36 Abs. 1 AufenthG ist danach unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass es für die Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Stammberechtigten ankommt, zu dem der Nachzug stattfinden soll, sofern der Visumsantrag binnen einer Frist von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an diesen gestellt wurde. Stammberechtigter ist die Person, die bereits über einen erlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet verfügt und von der der Anspruch auf Familiennachzug abgeleitet werden soll. Der Elternnachzug dient in diesem Fall nicht (auch) der Ausübung der Personensorge für den (vormals) Minderjährigen, sondern der Herstellung der Familieneinheit [...].
22 Die Grenzen unionsrechtskonformer Auslegung überschreitet die hier vertretene Auffassung zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit im Sinne von § 36 Abs. 1 AufenthG nicht. [...]
24 In Übertragung dieser Maßstäbe ist eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 36 Abs. 1 AufenthG möglich und geboten. Sinn und Zweck der Regelung ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 176) die Umsetzung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG, wonach die Mitgliedstaaten Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention die Einreise und den Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung zu gestatten haben. Angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung des EuGH zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit dient es diesem Zweck, wenn (auch) im nationalen Recht für die Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des Stammberechtigten abgestellt wird. Die Wortlautgrenze überschreitet diese Auslegung nicht. Zwar beschränkt § 36 Abs. 1 AufenthG das Nachzugsrecht auf Eltern von minderjährigen Ausländern und führt die unionsrechtskonforme Auslegung dazu, dass unter bestimmten Umständen auch Eltern von bereits volljährig gewordenen Ausländern nachziehen können. [...]
42 Auch die spätere Bestellung des Bruders zum Vormund des Stammberechtigten nach deutschem Recht macht ihn nicht zu einer nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Person im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG. Für die Frage, ob ein minderjähriger Drittstaatenangehöriger unbegleitet ist, kommt es nach dieser Vorschrift grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Einreise an. Soweit spätere Umstände zu berücksichtigen sind, betrifft dies zwei Fälle: Ein zum Zeitpunkt seiner Einreise unbegleiteter Minderjähriger, der danach von einem für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in Obhut genommen wird, ist nicht (mehr) unbegleitet, während ein ursprünglich begleiteter Minderjähriger, der nach der Einreise zurückgelassen wird, als unbegleitet anzusehen ist [...].
43 Die Kammer teilt nicht die Auffassung, dass eine nach Einreise nach deutschem Recht erfolgte Bestellung eines Vormunds der ersten Fallgruppe zuzuordnen sein kann [...]. Für die Frage der Verantwortlichkeit eines Erwachsenen für einen Minderjährigen kommt es nach dem Sinn und Zweck von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG, im Hinblick auf die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie sowie unter Berücksichtigung von Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 GRCh auf den Zeitpunkt der Einreise an. Andernfalls würde die u.a. für die Asylantragstellung in Deutschland notwendige Bestellung eines Vormunds regelmäßig dazu führen, dass das Recht auf Elternnachzug gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG verloren ginge, was wiederum zur Folge hätte, dass der Minderjährige seinen Eltern, also den von Geburt an für ihn verantwortlichen engsten Bezugspersonen, dauerhaft entzogen würde, und diese ihm. Dem Kindeswohl würde dies nicht entsprechen und die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG erheblich einschränken. Die Bestellung eines Vormunds für den unbegleiteten Minderjährigen dient im Fall abwesender Sorgeberechtigter, die die Sorge für den Minderjährigen nicht ausüben können, zunächst dem Zweck, ersatzweise einen sorgeberechtigten Vertreter zu bestimmen (§ 1789 BGB), damit der Minderjährige am Rechtsverkehr im Inland teilnehmen kann. Sie dient nicht dazu, die ortsabwesenden Eltern dauerhaft von der elterlichen Sorge auszuschließen. [...]