VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 07.08.2023 - 5 A 374/22 HAL (Asylmagazin 10-11/2023, S. 360 ff.) - asyl.net: M31795
https://www.asyl.net/rsdb/m31795
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Georgien:

1. In Georgien herrscht eine stark homofeindliche Grundhaltung vor. Es kommt zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung von LSBTI-Personen sowie zu Übergriffen auf diese.

2. Homo- und transsexuelle Personen werden in Georgien von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet, sodass sie als soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind.

3. Der georgische Staat ist derzeit nicht willens und in der Lage, homo- und transsexuelle Personen gemäß § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG wirksam vor nichtstaatlicher Verfolgung zu schützen. Denn die Stigmatisierung und Diskriminierung von LSBTI-Personen durch die georgische Öffentlichkeit hat ein solches Maß erreicht und eine Aufklärung und Verfolgung dieser Taten findet in einem nur derart geringen Umfang statt, dass nicht nur von einzelnen Übergriffen und Schutzlücken, sondern einem systemischen Schutzproblem auszugehen ist.

4. Einer Person, die vor ihrer Ausreise sowohl im privaten wie im beruflichen Bereich verschiedene Anfeindungen und Diskriminierungen aufgrund ihrer sexuellen Identität erlitten hat, ist die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

5. Es ist auch keine interne Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG ersichtlich, weil sich die geschilderte Verfolgung nicht auf einzelne Teile Georgiens beschränkt und es im gesamten Staatsgebiet an der Schutzbereitschaft des Staates fehlt.

6. Homosexuellen Rückkehrenden wird es in Georgien nur unter erheblich erschwerten Bedingungen möglich sein, sich in den georgischen Arbeitsmarkt zu reintegrieren. Es droht deshalb, wenn sich auch die Familie abwendet, die erhebliche Gefahr eines Lebens unterhalb des Existenzminimums.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 19.02.2020 - 38 K 171.19 A - asyl.net: M28266; anderer Ansicht: VG Bayreuth, Urteil vom 23.04.2019 - B 1 K 17.32627 - gesetze-bayern.de)

Schlagwörter: Georgien, homosexuell, soziale Gruppe, Diskriminierung, LSBTI, transsexuell, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Arbeitsmarkt,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

In Anwendung dieser Grundsätze ist das erkennende Gericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass bei dem Kläger die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus flüchtlingsrelevanten Gründen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG besteht, da er als Homosexueller in Georgien einer Verfolgung jedenfalls durch nicht-staatliche Akteure ausgesetzt wäre, die an einen Verfolgungsgrund anknüpft und gegen die ihn zu schützen der georgische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage ist und für ihn keine interne Fluchtalternative besteht.

Die Einzelrichterin ist insbesondere in Anbetracht der Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2023 davon überzeugt, dass dieser homosexuell ist. Die Einlassungen des Klägers waren glaubhaft. Er trug sowohl in der Anhörung beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung ohne Widersprüche und hinreichend detailliert vor, unter welchen Umständen er seine sexuelle Identität in seinem Heimatland ausgelebt hat und unter welchen Schwierigkeiten er dabei zu leiden hatte. Der Kläger beantwortete in der mündlichen Verhandlung alle Fragen ruhig und bereitwillig und zeigte auch keine Tendenzen, den Fragen auszuweichen. [...]

Der Kläger wird als Homosexueller in Georgien durch die georgische Bevölkerung verfolgt. Nach der Überzeugung der Einzelrichterin ist der Kläger als Teil der LGBTIQ-Gemeinschaft bei einer Rückkehr nach Georgien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer zielgerichteten unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt. Auf eine eventuelle Vorverfolgung des Klägers, die nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikations-RL 2011/95/EU die Vermutung einer erneuten Verfolgung begründen würde, kommt es daher nicht an.

Dabei reicht es zwar nicht aus, dass es sich bei dem Herkunftsland um ein "homophobes Land" handelt und es zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung kommt (so zutreffend OVG Lüneburg, Beschluss vom 18. Oktober 2013 – 8 LA 221/12 –, juris Rn. 16), die zielgerichtete unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch die nichtstaatlichen Akteure muss vielmehr ein bestimmtes Maß erreichen. Dieses Maß ist jedoch im Fall des Klägers erreicht. Nach der vorliegenden Sachlage würde dieser im Fall seiner Rückkehr nach Georgien voraussichtlich in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen auf Ablehnung und Diskriminierung stoßen und einer allgegenwärtigen Gewalt ausgesetzt sein. Wie sich sowohl aus den von der Einzelrichterin ausgewerteten Erkenntnismitteln als auch aus den Schilderungen des Klägers im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens ergeben hat, ist in der georgischen Bevölkerung eine stark homophobe Grundhaltung zu erkennen.

So beschreibt das Auswärtige Amt in einer Anfragebeantwortung zur Situation von LGBTIQ-Personen in Georgien vom 24. Januar 2023, dass Diskriminierung von LGBTIQ-Personen in Georgien weit verbreitet sei. Die LGBTIQ-Gemeinschaft stoße, wenn sie öffentlich sichtbar werde, auf breite Ablehnung in der Gesellschaft bis hin zu tätlichen Angriffen. Das Auswärtige Amt habe Kenntnis von vereinzelten Medienberichten zu Vorfällen und physischen Übergriffen auf LGBTIQ-Personen. Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird zur Situation von LGBTIQ-Personen ausgeführt, dass diese weiterhin sehr schwierig bleibe, auch wenn sie rechtlich nicht benachteiligt seien. Im gesellschaftlichen und beruflichen Leben (z.B. Arbeit, Familie, Gesundheit) begegneten LGBTIQ-Personen einer erheblichen ablehnenden Einstellung, angefacht auch durch die georgische-orthodoxe Kirche. Sie müssten mit ungleicher Behandlung und Anfeindungen bis hin zu physischen Übergriffen rechnen. Angehörige sexueller Minderheiten seien deshalb gezwungen, ihre sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu verbergen [...].

Laut einer weiteren Erkenntnisquelle verfüge Georgien zwar über eine gute und umfassende Gesetzgebung zum Schutz der LGBTIQ-Gemeinschaft. Die Durchsetzung der Gleichstellungspolitik und deren effektive Umsetzung in der Praxis sei jedoch nach wie vor problematisch. Besonders betroffen von diesen Mängeln sei die LGBTIQ-Gemeinschaft, welche eine der vulnerabelsten Gruppen in Georgien darstelle. Die ablehnende Einstellung der Gesellschaft gegenüber sexuellen Minderheiten werde durch die ablehnende Haltung der orthodoxen Kirche verstärkt. Homophobie und der Einfluss von Anti-Gender-Gruppen seien gesellschaftlich nach wie vor stark verwurzelt, weshalb LGBTIQ-Personen unter Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt leiden würden. Die Gefahr, welche für LGBTIQ-Gemeinschaftsmitglieder von radikalen und gewalttätigen Gruppen ausgehe, werde vom Staat nicht ausreichend bekämpft. [...]

Die große Mehrheit der Hassverbrechen bleibe ohne rechtliche Konsequenzen für die Täter. [...] In weiten Teilen der Gesellschaft wird Homosexualität darüber hinaus als Krankheit und / oder Sünde angesehen [...]. Das Hinweisen auf die Rechte und Bedürfnisse der LGBTIQ-Gemeinde wird zum einen als "homosexuelle Propaganda" und als solche für schädlich empfunden, da nach den Befürchtungen von Teilen der Bevölkerung Homosexualität auf diese Weise "weiterverbreitet" werden könne [...].

Nach wie vor geben darüber hinaus etwa über 50 % aller Georgier an, Homosexuelle nicht als Nachbarn zu wollen [...]. Nur 22 % der Befragten würden mit einem Homosexuellen Geschäfte machen [...].

Diese nach der vorliegenden aktuellen Erkenntnislage bestehende homophobe Grundhaltung steht zum Großteil in Übereinstimmung mit den Erlebnissen und Schilderungen des Klägers. Er berichtete in der mündlichen Verhandlung detailreich und anschaulich über die verschiedenen Anfeindungen und Diskriminierungen, die er in Georgien erlebt hat, nachdem seine sexuelle Identität bekannt wurde. So wurde er insbesondere von seiner Familie - dabei vor allem von seinem Bruder - angefeindet und körperlich misshandelt. Zudem hat sich seine Familie – bis auf ... - von ihm abgewandt. Dieses Verhalten hat nach seinen konsistenten und anschaulichen Schilderungen auch der Großteil seines Freundes- und Bekanntenkreises gezeigt, die sich teils aus Ablehnung, teils aus Angst vor Anfeindungen anderer, von ihm abgewandt haben. Sein Bruder habe ihn zudem zwingen wollen, eine Frau zu heiraten. Zudem habe er geäußert, ihn in eine Psychiatrie einweisen zu lassen, da er ihn für psychisch krank und eine Schande für die Familie halte. Die Einschränkungen und Diskriminierungen betrafen dabei nicht nur den privaten Bereich. Der Kläger schilderte in der mündlichen Verhandlung vielmehr, dass er innerhalb kurzer Zeit zweimal seine Arbeitsstelle verloren habe, als sein Bruder den Arbeitgebern mitteilte, dass der Kläger homosexuell sei. Sein zweiter Arbeitgeber bedrohte sogar sein Leben und riet ihm, sofort zu verschwinden, da sonst keiner mehr für das Leben des Klägers garantieren könne. Die vom Kläger erlebten und aus den Erkenntnismitteln ersichtlichen Probleme von LGBTIQ-Personen betreffen damit nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens und führen zu zum Teil schwerwiegenden Problemen – wie im Falle des Klägers zum wiederholten Verlust des Arbeitsplatzes. [...] Viele Mitglieder der LGBTIQ-Gemeinschaft sagten gegenüber dem Unabhängigen Experten der UN, dass sie ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität verheimlicht hätten, um Zugang zu ("menschenwürdiger") Arbeit zu haben [...]. Dieser letztgenannte Umstand wirkt sich auch und gerade insoweit aus, als es homosexuellen Rückkehrern anders als nicht-homosexuellen Rückkehrern nur unter nochmals erheblich erschwerten Bedingungen möglich sein dürfte, in den georgischen Arbeitsmarkt reintegriert zu werden. Gelingt ihnen das nicht, und wendet sich die Familie des Betroffenen aufgrund der Homosexualität von dem Rückkehrer ab (s.o.), besteht die erhebliche Gefahr, dass ein Leben unterhalb des Existenzminimums droht. [...]

Der Unabhängige Experte der UN hat bei seinem Besuch in Georgien im September 2018 ermittelt, dass Gewaltanwendung, Belästigung und Mobbing gegenüber Homosexuellen häufig auftreten [...].

LGBTIQ-Aktivisten, die sichtbar und öffentlichkeitswirksam für die Rechte der Gemeinschaft eintreten, sind noch stärker der Gefahr von Gewalt ausgesetzt als LGBTIQ-Personen, die sich nicht aktiv in der Öffentlichkeit engagieren. Nach Erkenntnissen etwa des United States Department of State (USDOS) berichteten LGBTIQ-Aktivisten, es sei üblich, dass sie ihre Büros aufgrund von Bedrohungen für die Sicherheit ihrer Mitarbeiter schließen müssten. [...]

Auch und insbesondere häusliche Gewalt gegenüber Homo- und Transsexuellen spielt nach den vorliegenden Erkenntnissen eine gewichtige Rolle. Nach einer vom Unabhängigen Experten der UN zitierten Umfrage aus dem Jahre 2018 gaben 84 Prozent der LGBTIQ-Personen an, dass sie in irgendeiner Form von Missbrauch durch Familienmitglieder betroffen waren [...].

Darüber hinaus ergibt sich aus den Erkenntnismitteln, dass es Homosexuellen nicht immer ohne weiteres möglich ist, öffentlich etwa auf Demonstrationen auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Nach den gewalttätigen Angriffen am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie (IDAHOT-Tag) im Jahr 2013 wurde Georgien vom EGMR angelastet, die LGBTIQ-Personen nicht ausreichend geschützt zu haben. 2013 griffen etwa tausend gewaltbereite Gegendemonstranten unter Anführerschaft von georgisch-orthodoxen Priestern erneut eine LGBTIQ-Demonstration an. [...]

Angesichts der oben geschilderten homophoben Grundhaltung der georgischen Bevölkerung werden homo- und transsexuelle Personen in Georgien von der sie umgebenden und sie verfolgenden Gesellschaft als andersartig betrachtet, so dass ihre Gruppe eine abgegrenzte Identität § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 lit. b) AsylG besitzt. [...]

Nach der Erkenntnislage ist der georgische Staat derzeit nicht willens und in der Lage, Homo- und Transsexuelle wirksam vor der geschilderten Verfolgung durch die georgische Gesellschaft oder einzelnen Personen – wie den Bruder des Klägers – zu schützen (§ 3d Abs. 1 lit. a], Abs. 2 AsylG).

Dabei ist der Beklagten dahingehend zuzustimmen, dass einzelne geschilderte Übergriffe gegenüber Homosexuellen grundsätzlich nicht die Schutzunwilligkeit bzw. Schutzunfähigkeit des Staates belegen (VGH München, Beschluss vom 23. November 2017 – 9 ZB 17.30302 –, juris Rn. 4). Auch das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen und damit gewisse Schutzlücken schließen die Wirksamkeit des Schutzes nicht grundsätzlich aus. Die Stigmatisierungen und Diskriminierungen der LGBTIQ-Personen durch die georgische Öffentlichkeit haben aber ein solches Maß erreicht, und eine Aufklärung und Verfolgung dieser Taten findet in einem nur derart geringen Umfang statt, dass nicht nur von einzelnen Übergriffen und vereinzelten Schutzlücken, sondern zur Überzeugung der Einzelrichterin einem systemischen Schutzproblem auszugehen ist [...].

Der Kläger kann schließlich auch nicht darauf verwiesen werden, bei seiner Rückkehr – wie in der Vergangenheit – mit seiner sexuellen Orientierung nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH, nach der bei der Prüfung eines Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr der Verfolgung zu vermeiden [...].

Der Kläger ist schließlich nicht darauf zu verweisen, Schutz in einem anderen Landesteil Georgiens zu suchen (§ 3e Abs. 1 AsylG). Nach den Erkenntnissen der Einzelrichterin ist die geschilderte Verfolgung nicht auf einzelne Teile Georgiens beschränkt und fehlt es im gesamten Staatsgebiet am schutzbereiten Staat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG). [...]