Ausweisung wegen Urkundenfälschung und Verstoß gegen Passpflicht:
1. Wird eine Person wegen Urkundenfälschung verurteilt und hat gegen die Passpflicht verstoßen, indem sie sich im Bundesgebiet aufgehalten hat, ohne zumutbare Mitwirkungshandlungen zur Erfüllung der Passpflicht zu ergreifen, liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. Sie hat damit nämlich gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen verstoßen.
2. Der weitere Aufenthalt der betroffenen Person würde auch gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Diese Bewertung beruht auf generalpräventiven Erwägungen, die - außer für privilegierte Personengruppen nach § 53 Abs. 3, Abs. 3a AufenthG - ein Ausweisungsinteresse begründen können. Diese Ausweisung aus generalpräventiven Gründen ist auch erforderlich, denn die Ausweisungspraxis ist geeignet, auf potenzielle weitere Täter abschreckend zu wirken.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
5 Am 1. September 2017 legte der Kläger anlässlich einer Vorsprache bei der Beklagten eine Staatsangehörigkeitsurkunde und eine ID-Karte vor. Die Dokumente seien durch seine im Irak lebende Familie an die irakische Botschaft in ... gesandt worden. Er habe die Dokumente in ... abgeholt. Einen Abholnachweis konnte der Kläger nicht vorlegen. Eine physikalisch-technische Untersuchung ergab in der Folge, dass der Staatsangehörigkeitsnachweis und die ID-Karte vom vorliegenden Vergleichsmaterial abweichen und Totalfälschungen darstellen.
6 Mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom ... 2018, rechtskräftig seit ... 2018, wurde gegen den Kläger wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 EUR verhängt.
7 Im Folgenden wurde der Kläger mehrfach aufgefordert, seiner Passpflicht nachzukommen und auf die Folgen einer Missachtung dieser Pflicht hingewiesen (erstmals bei der Vorsprache am 19. November 2019). Nach zwischenzeitlicher Erteilung von Duldungen für Personen mit ungeklärter Identität ab dem 6. Oktober 2020 legte der Kläger die für die Passbeantragung erforderlichen Dokumente am 9. Februar 2021 und einen gültigen Reisepass am 22. November 2021 vor. [...]
9 Mit Bescheid vom 23. Juli 2020 wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (Ziffer I) und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von vier Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise an (Ziffer II).
10 Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, es liege ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, weil der Kläger unerlaubt eingereist sei und im Asylverfahren mehrere totalgefälschte Urkunden vorgelegt habe. [...]
17 Die zulässige Klage ist unbegründet, weil der Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2020 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]
21 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung [...].
22 Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
23 Im Fall des Klägers liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Nach dieser Norm wiegt das Ausweisungsinteresse unter anderem dann schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen begangen hat. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist dabei so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist; eine vorsätzliche Straftat kann dabei grundsätzlich nicht als geringfügig angesehen werden (BayVGH B.v. 19.9.2017 - 10 C 17.1434 - juris Rn. 6 m.w.N.). Eine strafrechtliche Verurteilung ist im Rahmen des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG nicht erforderlich (BayVGH, B.v. 27.5.2021 - 19 ZB 20.1976 - juris Rn. 25). Der Kläger erfüllt diese Voraussetzung, insbesondere da er sowohl wiederholt als auch in nicht lediglich geringfügigem Maße gegen Rechtsvorschriften verstoßen hat.
24 Der Kläger hat zum einen gegen § 267 Abs. 1 StGB verstoßen. Gegen ihn wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom ... 2018, rechtskräftig seit ... 2018, wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 EUR verhängt. Er hatte am 1. September 2017 bei einer Vorsprache bei der Beklagten eine Staatsangehörigkeitsurkunde und eine ID-Karte vorgelegt, die laut physikalisch-technischer Untersuchung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Totalfälschungen darstellen. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte aufgrund dieses Strafbefehls ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse angenommen hat. [...]
25 Zum anderen hat sich der Kläger im Bundesgebiet aufgehalten, ohne zumutbare Mitwirkungshandlungen zur Erfüllung seiner Passpflicht ergriffen zu haben, § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1, 48 Abs. 2 AufenthG ist ein im Bundesgebiet aufhältiger Ausländer für den Fall, dass er nicht über einen anerkannten oder gültigen Pass bzw. Passersatz verfügt, verpflichtet, alle ihm zumutbaren Maßnahmen zur Erlangung eines Passes oder Passersatzes zu ergreifen.
26 Vorliegend hat der Kläger in den Jahren 2019 und 2020 zumutbare Maßnahmen zur Passbeschaffung nicht unternommen, weswegen er zumindest insoweit gegen die Passpflicht verstoßen hat. [...]
27 Die genannten Verstöße gegen das Strafrecht und das Aufenthaltsrecht sind aufgrund ihrer vorsätzlichen Begehung nicht nur geringfügig und zusammen betrachtet auch nicht nur vereinzelt, sodass das schwerwiegende Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gegeben ist.
28 Der weitere Aufenthalt des Klägers gefährdet auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG. Diese Bewertung wird von generalpräventiven Erwägungen getragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat zuletzt in den Urteilen vom 12. Juli 2018 und 9. Mai 2019 entschieden, dass sich mit generalpräventiven Gründen ein Ausweisungsinteresse begründen lässt [...]. Der Kläger gehört nicht zu den durch § 53 Abs. 3, Abs. 3a oder Abs. 3b AufenthG privilegierten Personengruppen, sodass auch insoweit das Abstellen auf generalpräventive Gründe nicht ausgeschlossen ist. Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass - über eine ggf. erfolgte strafrechtliche Sanktion hinaus - ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken. [...]
31 Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt. [...]
32 Dem genannten schwerwiegenden Ausweisungsinteresse stehen keine vertypten Bleibeinteressen gegenüber. [...]
33 Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung kommt die Kammer damit unter Berücksichtigung des verfassungsmäßigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu dem Ergebnis, dass vorliegend das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. [...]