Anspruch auf Rückholung nach Abschiebung nach Griechenland:
1. Auch männlichen, alleinstehenden und gesunden international Schutzberechtigten droht in Griechenland regelmäßig über einen längeren Zeitraum Obdachlosigkeit und eine unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und damit eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK/Art. 4 GR-Charta.
2. Wurde eine Person gleichwohl auf der Grundlage eines Unzulässigkeitsbescheides gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, § 35 AsylG abgeschoben, besteht ein rechtswidriger Zustand, auf dessen Behebung ein Anspruch besteht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat dem Betroffenen deshalb finanziell und organisatorisch die Rückreise zu ermöglichen.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.12.2022 - 12 S 2546/22 - asyl.net: M31237)
[...]
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger innerhalb einer Woche nach Rechtskraft der Entscheidung auf ihre Kosten zurückzuführen in das Bundesgebiet bzw. die Voraussetzungen für eine Wiedereinreise zu schaffen. [...]
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde und seine Abschiebung nach Griechenland angedroht wird. [...]
Mit Bescheid vom 10.05.2023, dem Kläger am 26.05.2023 zugestellt, lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers wegen des ihm bereits in Griechenland gewährten internationalen Schutzes als unzulässig ab (Ziffer 1). [...]
Am 11.08.2023 ist der Kläger nach Griechenland abgeschoben worden. Seinen einstweiligen Rechtsschutzantrag vom 15.08.2023 (9 B 172/23 MD) gerichtet auf Rückholung ins Bundesgebiet hat der Kläger damit begründet, dass er nach der Landung in Athen keinerlei Versorgung, Unterkunft oder Geld habe. Vielmehr befinde er seit diesem Zeitpunkt obdachlos in Athen. Dem Kläger sei es lediglich gelungen, sich mit dem Verein ... zu kontaktieren, um diese darüber in Kenntnis zu setzen, dass er abgeschoben worden sei und sich in Griechenland, konkret in Athen befinde ohne Unterkunft und ohne finanzielle Mittel. [...]
1. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) mit Annexantrag auf Beseitigung der Vollzugsfolgen (§ 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO) zulässig. Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart gegen die Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides) und die Folgeentscheidungen (BVerwG, U. v. 27.10.2015 - 1 C 32.14 -, juris). Die erfolgreiche Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsfeststellung führt in der Folge zur inhaltlichen Prüfung des Asylantrages durch die Beklagte, so dass es eines auf die Durchführung eines Asylverfahrens gerichteten zusätzlichen Verpflichtungsantrages nicht bedarf (BVerwG, U. v. 01.07.2017 - 1 C 9.17 -, juris).
2. Soweit der Kläger am 11.08.2023 nach Griechenland abgeschoben wurde und der streitgegenständliche Bescheid bereits vollzogen wurde, jedoch der Aufhebung unterliegt (vgl. dazu II. 1. a)) ist auch der Antrag des Klägers, die Beklagte zu verpflichten, ihn unverzüglich auf Kosten der Beklagten nach Deutschland zurückzuführen und ihm die Einreise nach Deutschland zu gewähren, als Annexantrag gemäß § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO, wonach Gericht auf Antrag auch aussprechen kann, dass und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat, wenn der Verwaltungsakt schon vollzogen ist, statthaft. Als auf den Realakt einer Ermöglichung der Wiedereinreise gerichtete Klage ist der Annexantrag überdies als Leistungsklage statthaft. Insoweit wurde entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO ein öffentlich-rechtlicher Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch geltend gemacht, sodass der Antrag auch im Übrigen zulässig ist.
Soweit der Kläger den Annexantrag gemäß § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO nachträglich gestellt hat, handelt es sich dabei um eine gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 3 ZPO stets zulässige Klageergänzung.
3. Die Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten gemäß der Ziffer 1 des Bescheides ist nicht im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG und § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO durch die Abschiebung des Klägers am 11.08.2023 nach Griechenland erledigt. Denn die mit der Unzulässigkeitsentscheidung verbundenen Regelungswirkungen bestehen fort. [...]
4. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides ist durch die Abschiebung des Klägers ebenfalls nicht als erledigt im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG und § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anzusehen.
Zwar ist durch den Vollzug einer angedrohten Abschiebung die Vollstreckungsmaßnahme der Verwaltungsbehörde abgeschlossen. Die Abschiebungsandrohung wirkt nicht als vorsorgliche Androhung für den Fall einer erneuten unerlaubten Einreise fort. Reist der Betroffene später wieder in das Bundesgebiet ein, kann daher von einer nach § 59 AufenthG notwendigen Abschiebungsandrohung nicht unter Hinweis auf die früher ergangene Abschiebungsandrohung abgesehen werden [...].
Für die Aufhebung der Abschiebungsandrohung fehlt es dem Kläger dennoch nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis. Wird eine Abschiebung vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit des mit der Abschiebung vollstreckten Verwaltungsakts - sprich während eines Hauptsacheverfahrens - durchgeführt, so bleibt es nach dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG dem Betroffenen unbenommen, weiterhin auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung als Teil der Vollstreckung geltend zu machen [...]. Denn in dem Rahmen des Hauptsacheverfahrens kann das Gericht auf Antrag gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO als Vollzugsfolgenbeseitigung annexweise aussprechen, dass und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. [...]
II. Die Klage ist auch begründet.
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.05.2023 ist in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
a) Die Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten in Ziffer 1 des Bescheides erweist sich als rechtswidrig und ist deshalb aufzuheben.
aa) Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn dem Ausländer bereits ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz gewährt hat.
bb) Zwar sind die Tatbestandsvoraussetzungen für die Unzulässigkeitsentscheidung im Fall des Klägers insoweit erfüllt, da ihm im Februar 2020 in Griechenland internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden ist. Gleichwohl war es der Beklagten aus Gründen höherrangigen Rechts verwehrt, den Asylantrag des Klägers auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abzulehnen. [...]
cc) Nach diesen Maßstäben ist bei Gesamtwürdigung der zu Griechenland vorliegenden Berichte und Stellungnahmen anzunehmen, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die tatsächliche Gefahr ("real risk") einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, so dass eine Rückführung des Klägers nach Griechenland nicht zulässig ist und die Abweisung des Asylantrages als unzulässig rechtswidrig ist.
Das Gericht ist auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel davon überzeugt, dass für den Kläger in Griechenland die Gefahr besteht, über einen längeren Zeitraum obdachlos und nicht hinreichend mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden. [...]
(2) Zurückgeführten anerkannt Schutzberechtigten droht in Griechenland mit hoher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit.
Zwar haben anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland grundsätzlich Zugang zum freien Wohnungsmarkt. Jedoch stellt sich die Anmietung einer Wohnung in der Praxis als schwierig dar, da Vorurteile und das bevorzugte Vermieten an Studenten, Familienmitglieder und Bekannte den Zugang zu Wohnraum für andere Bevölkerungsgruppen, wie anerkannt Schutzberechtigte, erschweren. Ein staatliches Programm bezüglich Wohnungszuweisungen gibt es in Griechenland weder für griechische Staatsbürger noch für anerkannte Schutzberechtigte [...].
Anerkannt Schutzberechtigte, die nach Griechenland zurückkehren, werden auch nicht in Flüchtlingslagern oder staatlichen Unterkünften untergebracht. [...]
Im Lichte dieser Ausführungen ist davon auszugehen, dass zurückkehrenden anerkannt Schutzberechtigten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit droht. [...]
Daran vermögen auch die durch den griechischen Staat und die von NGOs betriebenen Obdachlosenunterkünfte nichts zu ändern, da diese ganz überwiegend voll belegt sind und abgesehen davon anerkannt Schutzberechtigten aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen zu einem Großteil nicht zur Verfügung stehen [...].
Für zurückkehrende international Schutzberechtigte erscheint es zudem aussichtslos, einen Platz in einer Obdachlosenunterkunft zur kurzfristigen Unterbringung zu erhalten. [...]
Soweit die Beklagte darauf verweist, dass die Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen (bislang) kein augenscheinliches Massenphänomen darstellt, steht dieser Annahme bereits entgegen, dass über die Obdachlosigkeit anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland umfangreich in den Medien berichtet wurde [...]
Gleichwohl mag die auf einer Auskunft des Auswärtigen Amtes (Deutsche Botschaft (Athen): Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021) gestützte Annahme der Beklagten unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass Flüchtlinge, denen die Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende nicht (mehr) zur Verfügung stehen, teilweise "auf die Bildung von eigenen Strukturen und Vernetzung innerhalb der jeweiligen Landsmannschaft" und hierdurch gebotene "informelle Möglichkeiten der Unterkunft" zurückgreifen können. [...]
Ungeachtet der Frage der Zumutbarkeit der Lebensumstände in derartigen Formen illegalen Wohnens ist den Erkenntnismitteln jedoch zu entnehmen, dass in informellen Wohnmöglichkeiten Untergekommenen die zwangsweise Entfernung aus ihrer Unterkunft droht bzw. sie in der ständigen Gefahr leben, aus ihrer Unterkunft vertrieben zu werden [...]. Seit dem Antritt der derzeitigen griechischen Regierung im Juli 2019 wurden bis heute immer wieder durch Flüchtlinge bzw. Migranten besetzte Häuser in der Stadt Athen von der Polizei geräumt [...]
(3) Darüber hinaus sind zurückgeführte international Schutzberechtigte in Griechenland mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dazu in der Lage, sich wenigstens ihre elementarsten Grundbedürfnisse ("Brot, Seife") zu sichern.
(3a) Zwar haben anerkannt Schutzberechtigte rechtlich Zugang zum Arbeitsmarkt. Trotz der formal bestehenden Inländergleichbehandlung stellen in der Praxis jedoch die hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Sprachkenntnisse nahezu unüberwindliche Hindernisse dar. [...]
(3b) International anerkannt Schutzberechtigte erhalten überdies auch keine staatliche Unterstützung zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes (vgl. OVG NRW, U. v. 21.01.2021, a. a. O.). [...]
(4) Hinsichtlich der Gesundheitsversorgung ist ebenfalls festzustellen, dass anerkannte Flüchtlinge in der Praxis großen Schwierigkeiten ausgesetzt sind, sodass sich ihre medizinische Versorgung als lückenhaft darstellt [...]
(5) Ausgehend von diesen Feststellungen zur allgemeinen Situation von rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten in Griechenland ist - insbesondere vor dem Hintergrund, dass anerkannt Schutzberechtigte nach ihrer Rückkehr völlig auf sich allein gestellt sind - auch für den Kläger davon auszugehen, dass ihm bei einer erneuten Rückführung nach Griechenland unabhängig von seinem Willen und auch bei hoher Eigeninitiative mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unmittelbar nach seiner Ankunft (BVerfG, B. v. 31.07.2018 - 2 BvR 714/18 - juris) Obdachlosigkeit droht und er jedenfalls über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt zu sichern. [...]
(6) Der konkrete Einzelfall des Klägers rechtfertigt keine Abweichung von den oben unter (1) bis (5) dargelegten grundsätzlichen Annahme. [...]
2. Der Kläger hat darüber hinaus einen Anspruch darauf, ihm die Rückreise aus Griechenland auf Kosten der Beklagten zu ermöglichen.
Die Voraussetzungen des gewohnheitsrechtlich anerkannten, öffentlich-rechtlichen (Vollzugs-)Folgenbeseitigungsanspruchs, dessen Grundlage dogmatisch teilweise aus einem grundrechtlichen Abwehranspruch nach Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG und teilweise aus einer analogen Anwendung der §§ 1004 und 906 BGB hergeleitet wird, liegen vor. Notwendig für das Bestehen eines solchen Anspruchs ist, dass ein hoheitlicher Eingriff vorliegt, der ein subjektives Recht des Betroffenen verletzt. Für diesen muss dadurch ein rechtswidriger, dem Hoheitsträger zuzurechnender Zustand entstanden sein, der noch andauert [...]
Ein rechtswidriger Eingriff in Gestalt eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes liegt vor. Der Bescheid der Beklagten vom 10.05.2023 ist - wie dargestellt - rechtswidrig und war demnach aufzuheben.
Aus der Rechtswidrigkeit des Bescheides resultiert zudem ein rechtswidriger, der Beklagten zuzurechnender Zustand, der noch andauert, da der Kläger auf der Grundlage der Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides der Beklagten abgeschoben wurde. Zwar mag der nunmehrige Aufenthalt des Klägers in Griechenland in tatsächlicher Hinsicht Folge der von der Ausländerbehörde des Salzlandkreises durchgeführten Abschiebung des Klägers sein. Dies rechtfertigt indes nicht die Annahme, der Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch sei nicht gegen die Beklagte, sondern gegen die Ausländerbehörde des Salzlandkreises, in deren Zuständigkeit der (rein tatsächliche) Vorgang der Abschiebung gemäß §§ 71 Abs. 1, 75 AufenthG liege, zu richten. Anknüpfungspunkt des hier einschlägigen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs ist vielmehr die Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides, dessen Erlass allein dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzuordnen ist. [...]
Der so verstandene rechtswidrige Zustand führt zu einer Rechtsverletzung des Klägers. Denn der zwangsweise herbeigeführte Aufenthalt des Klägers verstößt - wie dargestellt - bereits gegen Art. 3 EMRK. Darüber hinaus steht dem Kläger im Lichte der aufgehobenen Unzulässigkeitsentscheidung und der damit verbundenen Pflicht der Beklagten zum Eintritt in das nationale Verfahren eine Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 AsylG als gesetzliches Aufenthaltsrecht besonderer Art [...] zu, welches durch den rechtswidrigen Zustand des Aufenthalts in Griechenland verletzt wird. [...]