VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 31.08.2023 - 29 K 133/22 V - asyl.net: M31780
https://www.asyl.net/rsdb/m31780
Leitsatz:

Familiennachzug zu nicht mehr minderjährigen Kindern:

1. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 12.4.2018 - C-550/16 und Urteil vom 1.8.2022 - C-273/20 und C-355/20) ist ein Familiennachzugsanspruch gegeben, wenn die stammberechtigte Person zum Zeitpunkt des Asylantrags noch minderjährig war, sie während des Verfahrens volljährig geworden ist und ein Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von 3 Monaten ab dem Tag, an dem die Flüchtlingsanerkennung erfolgte, gestellt wurde.

2. Eine fristwahrende Anzeige nur bei der Ausländerbehörde ist kein Antrag bei der zuständigen Auslandsvertretung.

(Leitsätze der Redaktion; siehe EuGH, Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff. - asyl.net: M26143, EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-273/20, C-355/20 Deutschland gg. SW, BL und BC (Asylmagazin 9/2022, S. 326 f.) - asyl.net: M30811; EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 Deutschland gg. XC (Asylmagazin 9/2022, S. 323 ff.) - asyl.net: M30815)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Elternnachzug, unbegleitete Minderjährige, Flüchtlingsanerkennung, fristwahrende Anzeige, Visumsantrag, Geburtsurkunde, Abstammungsnachweis,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 1, AufenthG § 36 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Bst. a
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung nach § 36 Abs. 1 AufenthG.

a) Der Anspruch ist ausgeschlossen, weil die Referenzperson - ihre Tochter - zum Zeitpunkt der Visumsantragstellung nicht mehr minderjährig war. [...]

Zwar ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH in den Urteilen vom 12. April 2018 (Rs. C-550/16 - juris) und vom 1. August 2022 (Rs. C-273/20 und C-355/20 - juris) bei der Anwendung von § 36 Abs. 1 AufenthG eine unionsrechtskonforme Auslegung im Lichte von Art. 2 Buchst. f i.V.m. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a Familienzusammenführungsrichtlinie dahingehend geboten, dass ein Nachzugsanspruch unter den kumulativen Voraussetzungen besteht, dass der Stammberechtigte zum Zeitpunkt seines Asylantrags noch minderjährig war, er während des Verfahrens volljährig geworden ist und ein Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, an dem die Flüchtlingsanerkennung erfolgte, gestellt wurde (vgl. VG Berlin, Urteil vom 11. November 2022 - VG 8 K 1.19 V - juris, Rn. 25 m.w.N.; EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - juris, Rn. 61). [...]

Die fristwahrende Anzeige gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG vom 31. August 2016 bei dem Beigeladenen reicht insoweit jedenfalls nicht aus, da es sich nicht um einen Antrag i.S.d. § 81 Abs. 1 AufenthG bei der nach § 71 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zuständigen Auslandsvertretung handelt (vgl. VG Berlin, Urteil vom 13. April 2023 - VG 13 K 78/21 V - unveröffentlicht, UA S. 4 m.w.N.; Urteil vom 12. Januar 2023 - VG 21 K 1309/21 V - unveröffentlicht, UA S. 3 ff. m.w.N; vgl. a. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Januar 2023 - 2 M 17/22 - unveröffentlicht, BA S. 4 f.; a.A. VG Berlin, Urteil vom 13. März 2023 - VG 36 K 176/21 V - unveröffentlicht, UA S. 7 ff. m.w.N.). Dabei ist es unerheblich, dass die Klägerin erst am 18. September 2017 einen Termin zur persönlichen Vorsprache erhalten hat, denn der Visumsantrag hätte aufgrund der Formfreiheit der Antragstellung nach § 81 Abs. 1 AufenthG rechtzeitig vorab bei der zuständigen Auslandsvertretung erfolgen können (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Januar 2021 - 3 M 154/20 - juris, Rn. 9). Schließlich regelt § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG nicht, dass die sog. fristwahrende Anzeige die Visumsantragstellung ersetzt, sondern lediglich, dass - im Falle einer Visumsantragstellung - die Frist des § 29 Abs, 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG gewahrt ist. Überdies hat nicht die Klägerin, sondern ihre Tochter die fristwahrende Anzeige gefertigt. Zur Visumsantragstellung ist jedoch nur der Ausländer selbst antragsbefugt, nicht der Zusammenführende; lediglich zur Wahrung der Frist nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ist es ausreichend, wenn der im Inland lebende Stammberechtigte einen Antrag (§ 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG) auch ohne schriftlichen Nachweis der Vollmacht stellt (Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 81 AufenthG Rn. 8; s.a. Kluth, in: BeckOK Ausländerrecht, 38. Edition, Stand: 01.01.2023, § 81 AufenthG Rn. 5). Mangels fehlender Antragsbefugnis der Tochter kann der "Antrag" vom 31. August 2016 schon nicht als Visumsantrag der Klägerin gewertet werden. Im Ergebnis handelt es sich trotz des Wortlauts bei der "fristwahrenden Anzeige" gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG nicht um einen Antrag i.S.v. § 81 Abs. 1 AufenthG. Die Anzeige gegenüber der Ausländerbehörde hat regelmäßig nicht den erforderlichen Erklärungsgehalt eines für die Beantragung eines Visums erforderlichen Antrags. Ihre Wirkungen beschränken sich auf die Sicherstellung des privilegierten Familiennachzugs gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 81 AufenthG Rn. 8). [...]