Flüchtlingseigenschaft für emanzipierte Frau aus dem Irak:
"Frauen, deren Identität maßgeblich von westlichen Werten und Moralvorstellungen geprägt ist, droht im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung [...]."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer "westlichen Prägung" entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.
Die Einzelrichterin der 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover hat hierzu in ihrem Urteil vom 10.5.2023 (- 6 A 2409/23 - zur Veröffentlichung u.a. bei juris vorgemerkt) ausgeführt:
"[...] Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 -, n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.
Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. [...]
"Ehrenmorde" gegen Frauen sind in der irakischen Gesellschaft verbreitet. [...]
Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren. [...]
Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. [...]
Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. [...]
Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. [...]"
Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an. Darüber hinaus scheint es in jüngster Zeit auch Gegenbewegungen zu den teilweise beschriebenen positiven Entwicklungen der Frauenrechte zu geben. So berichtet Khanim Latif [...] in ihrem Briefing des UN-Sicherheitsrats zum Irak vom 18.5.2023 - neben dem starken Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt - von gezielten Kampagnen gegen Menschenrechtsaktivistinnen in der Region Kurdistan-Irak, weil sie den Begriff "Gender" verwendeten [...].
Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. [...]
Nach der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat der Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass sie in den vergangenen Jahren in Deutschland eine "westlich" geprägte Identität entwickelt hat, so dass es ihr nicht zuzumuten wäre, sie bei einer Rückkehr in den Irak wieder abzulegen.
Die Klägerin trat in der mündlichen Verhandlung zunächst eher schüchtern auf, zeigte aber bei ihrer Befragung ein hohes Maß an Selbstbehauptung. So bat sie selbst das Gericht, ihrer Mutter bei der Anhörung beistehen zu dürfen, da diese ängstlich sei. Sie zeigte auch keine Probleme damit, in Abwesenheit ihrer Mutter angehört zu werden und in der ihr unbekannten Gerichtssituation auch persönliche Details aus ihrem Privatleben preiszugeben. Sowohl im Beherrschen der deutschen Sprache als auch in ihrem Erscheinungsbild war sie nicht von anderen in Deutschland lebenden jungen Erwachsenen zu unterscheiden. Sie hat dabei dem Gericht deutlich vor Augen geführt, dass sie die Freiheiten, die Frauen in der Bundesrepublik haben, auch für sich in Anspruch nimmt und ihr diese Freiheiten wichtig sind. [...]
Auch dass ihr eine selbstbestimmte Freizeitgestaltung wichtig ist, hat die Klägerin überzeugend zum Ausdruck gebracht. So verbringt sie ihre Freizeit gerne mit Freunden im Kino oder in der Stadt. Besonders wichtig sei ihr, alleine das Haus verlassen zu können und sich alleine frei und sicher zu fühlen, was im Irak unvorstellbar gewesen sei. Ihr Freundeskreis sei gemischt, d.h. bestehe aus Yeziden, Muslimen, Christen. Besonders eindrucksvoll hat die Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass es für sie zentral sei, alle Menschen gleich zu behandeln. [...]
Ob eine Verfolgungsgefahr für "verwestlichte" Frauen im Irak nur besteht, wenn gleichzeitig kein wirksamer Schutz durch einen Familien- oder Stammesverbund erlangt werden kann, kann dahinstehen - auch wenn sich der Einzelrichter diesbezüglich den Ausführungen der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover im Urteil vom 27.10.2022 (- 3 A 5642/18 -, juris Rn. 44) anschließt:
"Aus Sicht des Einzelrichters ist es unabhängig davon allerdings in der vorliegenden Konstellation auch unerheblich, ob noch Familienangehörige im Irak vorhanden sind, die zahlenmäßig in der Lage und grundsätzlich auch willens wären, der Klägerin Schutz zu gewähren. Denn wenn - wie vorliegend 11 eine so starke "westliche Prägung" vorliegt, dass es der Flüchtlingsschutz begehrenden Frau nicht zumutbar ist, diese abzulegen, gehört zu dieser "westlichen Prägung" mitbestimmend auch gerade der Anspruch, die eigene Lebensführung autonom und eben nicht (nur) unter dem Schutz anderer Familienmitglieder gestalten zu können. [...]"
Auf einen Familien- oder Stammesverbund kann die Klägerin nicht zurückgreifen, denn im Irak lebt nach den glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer Mutter lediglich ein alter und kranker Onkel. [...]
Ausreichender staatlicher Schutz oder interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist für die Klägerin nicht erreichbar. Das beschriebene Verhalten gegenüber "westlich" orientierten Frauen geht sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass den Klägerinnen die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.6.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74-77 und siehe auch die vorstehenden Ausführungen). [...]