VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 05.06.2023 - 3 A 1652/19 (Asylmagazin 10-11/2023 S. 362 ff.) - asyl.net: M31776
https://www.asyl.net/rsdb/m31776
Leitsatz:

"Westlich geprägten" Frauen und Mädchen aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak ist Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen:

"Die Situation für (jesidische) Frauen und Mädchen in der Autonomen Region Kurdistan im Irak mag sich zwar in letzter Zeit gebessert haben, was jedoch nicht zur Folge hat, dass diesen im Falle einer sog. "westlichen Prägung" keine Verfolgung drohte (Rn. 46)."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: VG Köln, Urteil vom 16.07.2021 - 3 K 8062/17.A - justiz.nrw.de)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Yeziden, westlicher Lebensstil, emanzipiert, Jesiden, Frauen, alleinstehende Frauen, Mädchen,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

23 Nach diesen Maßgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe irakischer Frauen bzw. Mädchen, deren Identität "westlich geprägt" ist (im Sinne eines freiheitlichen und emanzipierten Denkens und Handelns), im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt wäre. Frauen/Mädchen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer "westlichen Prägung" entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.

24 a) Unzutreffend ist insofern die von der Beklagten übernommene Auffassung des Verwaltungsgerichts Köln (Urteil vom 16. Juli 2021 – 3 K 8062/17.A –, Rn. 32ff., juris), der Begriff der "Verwestlichung" bzw. einer "westlichen Prägung" sei in dem hier maßgebenden rechtlichen Kontext nicht allgemein definierbar.

25 Der Begriff der "Verwestlichung" wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, u. a. in der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, den Religionswissenschaften, der Politologie, den  Wirtschaftswissenschaften, den Rechtswissenschaften, den Kulturwissenschaften, verwendet und hat insoweit auch (teilweise) unterschiedliche Bedeutungsinhalte [...]. In dem hier maßgebenden flüchtlingsrechtlichen Zusammenhang meint der Begriff die individuelle Übernahme von sozio-kulturellen und/oder religiösen bzw. weltanschaulichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, wie sie für die  gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart in säkularistisch und demokratisch organisierten Staaten, namentlich in Europa und auf dem (nord-)amerikanischen Kontinent sowie in Australien und Neuseeland, im Allgemeinen kennzeichnend sind. Dazu gehören insbesondere die Vorstellung einer grundlegenden Freiheit zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung und gleichberechtigten Eigenverantwortlichkeit jeder Person, insbesondere aber von Frauen, in religiöser, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und sexueller Hinsicht und das Recht jeder (erwachsenen) Person, über ihre persönliche Lebensführung insgesamt, namentlich aber in den zuvor benannten Bereichen, autonom entscheiden zu dürfen, ohne dabei an lediglich gesellschaftlich vorherrschende, aber nicht formal-gesetzlich vorgeschriebene Verhaltensregeln gebunden zu sein. Weiterhin kennzeichnend für den hier streitbefangenen Begriff der "Verwestlichung" ist zudem die Idee und grundsätzliche Akzeptanz einer gesellschaftlichen Pluralität insbesondere in sozio-kulturellen, weltanschaulich-religiösen und auf die Sexualmoral bezogenen Anschauungen. [...]

26 b) Ausgehend von diesem Begriffsverständnis besteht für den Einzelrichter nicht der geringste Zweifel daran, dass Frauen bzw. Mädchen, die im vorbeschriebenen Sinne in ihrer Denk- und Verhaltensweise "verwestlicht" bzw. "westlich geprägt" sind bzw. denen von der (Mehrheits-)Gesellschaft im Irak eine derartige Prägung zugeschrieben wird, in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft nach deren Verständnis, auf das es diesbezüglich ankommt, eine hinreichend deutlich abgrenzbare Gruppe bilden. Denn in diesem Sinne als "verwestlicht" wahrgenommene Frauen/Mädchen widersprechen geradezu diametral den in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft herrschenden Vorstellungen von der sozialen und individualen Rolle bzw. Stellung einer Frau/eines Mädchens und den daraus abgeleiteten Anforderungen an ihr Verhalten. [...]

29 c) Nach der ständigen Rechtsprechung aller für Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger zuständigen Kammern des VG Hannover werden Frauen/Mädchen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen/Mädchen im Irak auf Grund einer "westlichen Prägung" entgegenstellen oder denen ein solches Verhalten von der irakischen (Mehrheits-) Gesellschaft im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben wird, wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. u. a. Urteil der 3. Kammer vom 27. Oktober 2022 – 3 A 5642/18 –, juris; Urteile der 12. Kammer vom 30. Mai 2022 – 12 A 12267/17 – sowie vom 2. Februar 2022 - 12 A 12106/17 -, jeweils juris; Urteile der 6. Kammer vom 10. Mai 2022 - 6 A 3221/17 -, V. n. b.).

30 Dem liegen maßgebend folgende Erwägungen zu Grunde (vgl. hierzu das Urteil der Einzelrichterin der 6. Kammer des VG Hannover vom 10. Mai 2023 – 6 A 2409/23 –, zur Veröffentlichung – u. a. juris – vorgemerkt):

" [...]

35 Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt.[...]

36 "Ehrenmorde" gegen Frauen sind in der irakischen Gesellschaft verbreitet. [...]

37 Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. [...]

38 Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. [...]

39 Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. [...]

40 Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. [...]

43 In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. [...]

44 Im Frühjahr 2022 stieg die Zahl von tödlichen Angriffen auf Frauen durch Familienmitglieder in der Region Kurdistan-Irak stark an [...]"

45 Der o. g. häuslichen Gewalt gegen Frauen wird von Staatsseite auch weiterhin nicht bzw. nicht effektiv entgegengewirkt [...].

46 d) Soweit der Einzelrichter der 12. Kammer des VG Hannover in einer innerhalb des VG Hannover isoliert gebliebenen Entscheidung (VG Hannover, Urteil vom 21. November 2022 – 12 A 1928/18 –, juris) die Auffassung vertreten hat, Jesidinnen aus dem Distrikt Semel der Provinz Dohuk hätten keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen westlicher Identitätsprägung, weil sich für diese die Situation (in der Autonomen Region Kurdistan) derart verändert habe, dass eine Verfolgung nicht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten sei, kann dem nicht gefolgt werden. [...]

51 e) Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau/des Mädchens nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen/Mädchen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann [...].

52 f) Nach der informatorischen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung – bei der die 13-jährige Klägerin durchgehend authentisch und überzeugend wirkte – hat der Einzelrichter – ausgehend von dem vorbezeichneten Maßstab – die eindeutige Überzeugung gewonnen, dass diese in den vergangenen Jahren in der Beklagten eine "westlich geprägte Identität" entwickelt hat, die für sie von zentraler Bedeutung ist und die sie bei einer Rückkehr in den Irak nicht wird ablegen können. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sie einen sehr prägenden Teil ihres Lebens in der Beklagten verbracht hat; sie ist hier im Alter von neun Jahren eingetroffen.

53 Die Klägerin trat in der mündlichen Verhandlung emanzipiert und selbstbewusst auf. Sie verzichtete fast ausschließlich auf die Zuhilfenahme des Dolmetschers und spricht sehr gut Deutsch; es traten  dementsprechend keinerlei Verständigungsschwierigkeiten auf. Sie hatte offenes sowie unverdecktes Haar und war von ihrem Kleidungsstil auch sonst "westlich geprägt" (.…). [...]