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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 21.08.2023 - 5 BV 21.2773 - asyl.net: M31769
https://www.asyl.net/rsdb/m31769
Leitsatz:

Zum unfreiwilligen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit:

Ein Kind verliert die durch Geburt aufgrund wirksamer Vaterschaftsanerkennung erworbene deutsche Staats­angehörigkeit nicht durch eine erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung, weil es insoweit an einer gesetzlichen Grundlage fehlt (wie BVerwG, U.v. 26.5.2020 – 1 C 12/19 – BVerwGE 168, 159 Rn. 23).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Vaterschaftsanerkennung, Vaterschaftsanfechtung, deutsches Kind, Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, deutsche Staatsangehörigkeit,
Normen: StAG § 4, StAG § 17, GG Art. 16 Abs. 1, BGB § 1599
Auszüge:

[...]

21 2. Der Kläger hat gemäß § 4 Abs. 1 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, da ein deutscher Staatsangehöriger gemäß § 1592 Nr. 2 BGB die Vaterschaft wirksam anerkannt hat. Durch die mit rechtskräftigem Beschluss des Amtsgerichts … vom 26. März 2015 erfolgte Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft ist kein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Klägers eingetreten, weil eine gesetzliche Grundlage hierfür fehlt.

22 a) Der Wegfall der durch Geburt erworbenen Staatsangehörigkeit durch eine gerichtliche Feststellung des Nichtbestehens der den Erwerb begründenden Vaterschaft stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 17.7.2019 – 2 BvR 1327/18 – juris Rn. 24) jedenfalls dann keine (ausnahmslos verbotene) Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG dar, wenn das betroffene Kind sich in einem Alter befindet, in dem Kinder üblicherweise ein eigenes Vertrauen auf den Bestand ihrer Staatsangehörigkeit noch nicht entwickelt haben. Bei Einfügung des § 17 Abs. 2 StAG durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. b des Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 5. Februar 2009 (BGBl I S. 158) mit Wirkung vom 12. Februar 2009 hat der Gesetzgeber diese Altersgrenze bei fünf Jahren angesetzt und dabei von seiner Einschätzungsprärogative Gebrauch gemacht (vgl. zu den maßgeblichen Erwägungen BT-Drs. 16/10528 S. 6 f.). [...]

25 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 17.12.2013 – 1 BvL 6/10 – juris Rn. 81; B.v. 17.7.2019 – 2 BvR 1327/18 – juris Rn. 33) ist eine gesetzliche Anordnung des Verlusts der Staatsangehörigkeit nur dann hinreichend bestimmt, wenn die für den Einzelnen und für die Gesellschaft gleichermaßen bedeutsame Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit nicht beeinträchtigt wird. Hierbei sind die strengen Anforderungen zu beachten, die der Gesetzesvorbehalt an die Regelung der Staatsangehörigkeit stellt. Zur Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitsstatus gehört auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen.

26 c) Eine gesetzliche Grundlage im vorgenannten Sinne für einen unfreiwilligen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit infolge einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung fehlt (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2020 – 1 C 12/19 – Rn. 23).

27 aa) Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 StAG erwirbt ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt, wenn ein Elternteil diese Staatsangehörigkeit besitzt. Diese Vorschrift enthält einen ausdrücklichen Erwerbstatbestand für die deutsche Staatsangehörigkeit, nicht dagegen eine Verlustregelung.

28 Soweit die Abstammung von dem Vater mit deutscher Staatsangehörigkeit die Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft erfordert, so muss diese gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG nach den deutschen Gesetzen wirksam sein. Auch insoweit wurde kein Verlusttatbestand normiert, sondern im Rahmen des Erwerbstatbestands auf Voraussetzungen für das Wirksamwerden einer Vaterschaftsanerkennung oder -feststellung nach deutschem Recht (§§ 1594 ff., § 1600d BGB, § 182 Abs. 1 FGG) Bezug genommen. [...]

29 bb) Auch die familienrechtliche Vorschrift des § 1599 Abs. 1 BGB beinhaltet keine Regelung staatsangehörigkeitsrechtlicher Wirkungen einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung. Zwar liegt ihr die unausgesprochene Annahme des Gesetzgebers zugrunde, das Staatsangehörigkeitsrecht folge in vollem Umfang den familienrechtlichen Abstammungsvorschriften, sodass die staatsangehörigkeitsrechtlichen Erwerbsvoraussetzungen mit der Vaterschaft ohne weiteres rückwirkend entfallen würden. Es fehlt jedoch an einer dem Gesetzesvorbehalt in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechenden ausdrücklichen Regelung einer solchen Rechtswirkung (vgl. BVerfG, B.v. 17.7.2019 – 2 BvR 1327/18 – juris Rn. 34; B.v. 17.12.2013 – 1 BvL 6/10 – juris Rn. 82).

30 cc) Eine gesetzliche Grundlage für einen Staatsangehörigkeitsverlust infolge einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung findet sich auch nicht in § 17 StAG. Im Katalog von Verlusttatbeständen in § 17 Abs. 1 StAG wird dieser Fall nicht genannt. Gleichermaßen beinhaltet § 17 Abs. 3 Satz 1 StAG keine entsprechende Verlustregelung. [...]

32 In § 17 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 StAG ist nicht geregelt, dass ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, die es durch Geburt aufgrund einer Vaterschaftsanerkennung erworben hat, infolge einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung wieder verliert. Der Regelungsgehalt beschränkt sich darauf, einen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, der als Rechtsfolge von Entscheidungen "nach anderen Gesetzen" eintritt, auf Kinder zu beschränken, die das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben. In § 17 Abs. 3 Satz 1 StAG wird u.a. die Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft gemäß § 1599 BGB als Entscheidung in diesem Sinn genannt. Die Regelung setzt damit den anderweitig gesetzlich angeordneten Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit voraus, ohne ihn selbst zu regeln.

33 Bei Normierung der Altersgrenze in § 17 Abs. 2 und 3 StAG ging der Gesetzgeber davon aus, das Staatsangehörigkeitsrecht folge in vollem Umfang den familienrechtlichen Abstammungsvorschriften; ein rückwirkender Wegfall der Abstammung von einem deutschen Elternteil als Erwerbsgrund für die deutsche Staatsangehörigkeit führe bei Kindern unter fünf Jahren zum rückwirkenden Verlust ihrer deutschen Staatsangehörigkeit (BT-Drs. 16/10528 S. 6 f.). Dies entsprach zum damaligen Zeitpunkt einer allgemeinen, hergebrachten Rechtsüberzeugung (vgl. BVerfG, B.v. 24.10.2006 – 2 BvR 696/04 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 1.17 – juris Rn. 19 und 34; BayVGH, B.v. 11.9.2007 – 5 CS 07.1921 – juris Rn. 3). Die Neuregelung in § 17 Abs. 2 und 3 StAG bezweckte lediglich, entsprechend dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 2006 (2 BvR 696/04 – juris Rn. 22) den Bestand einer durch eine Vaterschaftsanerkennung erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit im Falle einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung zu sichern, wenn das betreffende Kind das fünfte Lebensjahr vollendet hat (vgl. dazu unter a). Zudem ist in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/10528 S. 6) nur im Zusammenhang mit der Ergänzung des Katalogs in § 17 Abs. 1 StAG, nicht dagegen in Bezug auf die neuen Absätze 2 und 3 der Vorschrift davon die Rede, die bisherigen Verlustgründe der deutschen Staatsangehörigkeit würden ergänzt.

34 Dem Vertreter des öffentlichen Interesses ist zwar darin zuzustimmen, dass § 17 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 StAG die Annahme des Gesetzgebers erkennen lässt, die erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung lasse die aufgrund einer Vaterschaftsanerkennung durch Geburt gemäß § 4 Abs. 1 StAG erworbene deutsche Staatsangehörigkeit entfallen. Daraus ergibt sich jedoch keine gesetzliche Grundlage für einen unfreiwilligen Verlust der Staatsangehörigkeit, die den strengen Anforderungen des Gesetzesvorbehalts gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechen würde (BVerfG, B.v. 17.12.2013 – 1 BvL 6/10 – juris Rn. 83; NdsOVG, U.v. 25.5.2023 – 13 LC 287/22 – juris Rn. 45 ff.; OVG Bremen, U.v. 10.3.2020 – LC 171/16 – juris Rn. 34 ff., a.A. VGH BW, B.v. 7.7.2020 – 11 S 2426/19 – juris Rn. 17). Vielmehr belegt gerade diese Annahme, dass aus damaliger Sicht des Gesetzgebers kein Erfordernis bestand, für diesen Fall einen neuen Verlusttatbestand zu schaffen. [...]