VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.06.2023 - A 11 S 1695/22 - asyl.net: M31767
https://www.asyl.net/rsdb/m31767
Leitsatz:

Nicht allen ehemaligen Regierungsmitarbeiter*innen und Sicherheitskräften aus Afghanistan droht bei Rückkehr ernsthafter Schaden:

1. Bei der Einschätzung, welche Gefahren ehemaligen Regierungsmitarbeiter*innen und Sicherheitskräften in Afghanistan drohen, ist zwischen früheren Mitgliedern der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF), der Afghan Local Police (ALP) sowie der Regierung nahestehenden Milizen einerseits und sonstigen Mitarbeitenden der Regierung andererseits zu unterscheiden. In Bezug auf das Risikoprofil der sonstigen Regierungsmitarbeiten - mit Ausnahme von Richtern, Staatsanwälten und Frauen in allen Positionen - ist nicht generell von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines im Herkunftsland drohenden ernsthaften Schadens gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG auszugehen. Ob Schutzsuchenden ein solcher Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und deshalb der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, ist individuell unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Maßgebliche Faktoren hierbei sind u.a. die Art, Dauer und Bedeutung der ausgeübten Tätigkeit, die Institution, bei welcher der Schutzsuchende beschäftigt war, die Region, in welcher die Tätigkeit ausgeübt wurde und das Bestehen persönlicher Feindschaften.

2. Für Zurückkehrende, die nicht in exponierter Weise "verwestlicht" sind, besteht nicht allein aufgrund des Auslandsaufenthalts die tatsächliche Gefahr, Opfer einer § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuwiderlaufenden Behandlung zu werden - weder mit Blick auf Handlungen der regierenden Taliban noch in Bezug auf Handlungen der afghanischen Aufnahmegesellschaft. Eine "Verwestlichung" ist allenfalls dann als individuell gefahrerhöhender Umstand anzusehen ist, wenn sie mit einer tiefgreifenden westlichen Identitätsprägung einhergeht.

3. Es kann offenbleiben, ob in den afghanischen Provinzen Nangarhar und Kabul ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrscht. Denn bezogen auf die dortige Sicherheitslage lässt sich zumindest kein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass für jede Zivilperson bei einer Rückkehr dorthin allein aufgrund ihrer Anwesenheit tatsächlich die Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit bestünde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Regierung, Leibwächter, Militärdienst, Soldaten, subsidiärer Schutz, ernsthafter Schaden, Polizei, Sicherheitskräfte, Verwestlichung, westlicher Lebensstil, Kabul, Nangahar, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, ISKP, Taliban
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

26 Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen. Sie ist zwar zulässig (1.), aber unbegründet (2.). [...]

46 b) Der Antrag des Klägers, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen, bleibt allerdings in der Sache ohne Erfolg. [...]

56 aa) Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).

57 bb) Auch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG sind nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

58 Unter einer unmenschlichen Behandlung im oben genannten Sinne ist die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen. Eine erniedrigende Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG besteht in einer Demütigung oder Herabsetzung, die ein Mindestmaß an Schwere aufweist. Dieses Maß ist erreicht, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen [...].

59 Ausgehend von diesen Maßstäben lässt sich eine tatsächliche Gefahr für den Kläger, Opfer einer § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuwiderlaufenden Behandlung zu werden, nicht feststellen. Dies gilt nicht nur mit Blick auf das individuelle Vorbringen des Klägers (1), sondern auch hinsichtlich einer etwaigen (allgemeinen) Gefahr, als Rückkehrer - sei es durch die Taliban, sei es durch die dortige Aufnahmegesellschaft - schlecht behandelt zu werden (2), sowie in Bezug auf die prekären humanitären Bedingungen in Afghanistan (3).

60 (1) Dem Kläger droht in Afghanistan mit Blick darauf, dass er vor seiner Ausreise als Bodyguard eines Provinzgouverneurs tätig gewesen ist, keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. [...]

62 Vorweg ist anzumerken, dass angesichts des allgemeinen Aussageverhaltens des Klägers in der letzten mündlichen Verhandlung seitens des erkennenden Senats einige Vorbehalte in Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Klägers bestehen, worunter letztlich auch die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens im Übrigen leidet. [...]

65 Dessen ungeachtet vermag der Senat dem Vorbringen des Klägers zum geltend gemachten ernsthaften Schaden bzw. der Bedrohung mit einem solchen zumindest teilweise Glauben zu schenken. Dabei hält der Senat den Vortrag des Klägers allerdings nur insoweit für glaubhaft, als er darlegt, in Afghanistan als Leibwächter für den damaligen Gouverneur der Provinz Nangarhar tätig gewesen zu sein. Hiervon ist der Senat insbesondere nach der Anhörung des Klägers in der letzten mündlichen Verhandlung und in Anbetracht der bereits bei der Anhörung durch das Bundesamt vorgelegten Fotos [...] überzeugt. [...]

66 Von seiner Tätigkeit für den Gouverneur hat der Kläger insgesamt detailliert und anschaulich berichtet. [...]

68 Allerdings vermag der Senat dem Vorbringen des Klägers keinen Glauben zu schenken, soweit er vorträgt, vor seiner Ausreise aus Afghanistan wegen bzw. nachfolgend zu seiner Tätigkeit als Bodyguard des Provinzgouverneurs Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt gewesen zu sein.

69 Vor dem Hintergrund, dass der Kläger bereits ab Februar 2013 offen als Leibwächter des Gouverneurs gearbeitet hat, erscheint zunächst schon wenig wahrscheinlich, dass die Taliban erst verhältnismäßig spät gegen seine Person vorgegangen sein sollen. [...]

70 Auch vermochte der Kläger nicht plausibel zu erklären, warum ihn die Taliban - bis zum vorgeblichen Überfall auf seine Familie in der Nacht vom 22.07.2015 - nie unmittelbar selbst bedroht und beispielsweise zu Hause aufgesucht haben. [...]

76 (b) Unabhängig von einer fehlenden Vorverfolgung droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht allein aufgrund des Umstands, Bodyguard eines Provinzgouverneurs gewesen zu sein, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. [...]

89 Nach alledem ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass bei der Einschätzung, welche Gefahren ehemaligen Regierungsmitarbeitern und Sicherheitskräften in Afghanistan drohen, zwischen früheren Mitgliedern der ANDSF, der ALP sowie der Regierung nahestehenden Milizen einerseits und sonstigen Mitarbeitern der Regierung andererseits zu unterscheiden ist. Den Kläger ordnet der Senat der zuletzt genannten Gruppe zu. Denn es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass er dem Militär, der Nationalen Polizei, dem Geheimdienst, der Afghan Local Police oder einer Pro-Regierungs-Miliz angehört hat. Als ehemaliger Leibwächter eines früheren Provinzgouverneurs ist er daher der Risikogruppe der sonstigen mit der ehemaligen Regierung verbundenen Personen zuzuordnen. In Bezug auf dieses Risikoprofil - mit Ausnahme von Richtern, Staatsanwälten und Frauen in sonstigen Positionen - reichen die ausgewerteten Erkenntnisse nicht aus, um generell von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines drohenden ernsthaften Schadens auszugehen. Ob dem Schutzsuchenden ein solcher Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist vielmehr individuell unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln (ähnlich VG Würzburg, Urteil vom 05.04.2023 - W 1 K 23.30107 - juris Rn. 44). Maßgebliche Faktoren hierbei sind u.a. die Art, Dauer und Bedeutung der ausgeübten Tätigkeit, die Institution, bei welcher der Schutzsuchende beschäftigt war, die Region, in welcher die Tätigkeit ausgeübt worden ist, und die Existenz persönlicher Feindschaften.

90 Nach diesen Maßstäben gelangt der Senat nicht zu der Überzeugung, dass dem Kläger wegen seiner von Februar 2013 bis Sommer 2015 ausgeübten Tätigkeit als Bodyguard des früheren Gouverneurs der Provinz Nangarhar im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Als Bodyguard hatte der Kläger keine exponierte Stellung inne, die bei den Taliban ein Verfolgungsinteresse geweckt haben könnte, selbst wenn er als Leibwächter des Gouverneurs "sichtbarer" gewesen wäre als etwa ein an einem Tor eingesetzter "einfacher" Wachposten. Der Senat verkennt nicht, dass es in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban zu Tötungen auch nicht besonders exponierter Regierungsmitarbeiter, darunter etwa auch Bodyguards, gekommen ist. Die bekanntgewordenen Fälle erreichen indes - auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass Menschenrechtsverletzungen in der aktuellen Lage in Afghanistan häufig nicht berichtet und dokumentiert werden [...] - nicht ein solches Ausmaß, dass von einer generellen Gefährdung von Bodyguards früherer Regierungsrepräsentanten ausgegangen werden kann. [...]

91 (2) Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung in seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus dem nicht muslimisch geprägten Ausland.

92 Der Senat hat in seinem Urteil vom 22.02.2023 (- A 11 S 1329/20 - juris Rn. 81 bis 83 unter Bezugnahme auf Rn. 57 bis 68) ausführlich dargelegt, dass und weshalb sich für Rückkehrer nach Afghanistan, die nicht in exponierter Weise "verwestlicht" sind, allein aufgrund des erfolgten Auslandsaufenthalts eine tatsächliche Gefahr, Opfer einer § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuwiderlaufenden Behandlung zu werden, weder mit Blick auf Handlungen der regierenden Taliban noch in Bezug auf Handlungen der afghanischen Aufnahmegesellschaft feststellen lässt. In diesem Zusammenhang hat der Senat auch ausgeführt, dass eine "Verwestlichung" allenfalls dann als individuell gefahrerhöhender Umstand anzusehen ist, wenn sie mit einer tiefgreifenden westlichen Identitätsprägung einhergeht.

93 Eine derartige tiefgreifende westliche Identitätsprägung ist in Bezug auf die Person des Klägers nicht festzustellen. [...]

95 cc) Schließlich hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. [...]

100 (2) Nach diesen Maßstäben ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in Bezug auf die Provinz Nangarhar nicht festzustellen, dass dort eine den Anforderungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG entsprechende Gefahrendichte besteht. [...]

116 (3) Hinsichtlich der Provinz Kabul stellt sich die Erkenntnismittellage wie folgt dar: [...]

127 Nach alledem erreicht die in der Provinz Kabul vorherrschende Gewalt ebenfalls nicht das für eine Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderliche Ausmaß; dies jedenfalls dann, wenn man - wie im Falle des Klägers - nicht vom Vorliegen individueller Umstände ausgeht, die das Risiko einer ernsthaften Schädigung für den Betroffenen relevant erhöhen. Auch wenn die Gefahrendichte höher ist als in manch anderen Provinzen Afghanistans (vgl. die Übersichtskarte von EUAA, Country Guidance: Afghanistan, Januar 2023, S. 124), ist die allgemeine Sicherheitslage in der Provinz Kabul insofern stabil, als die bloße Anwesenheit dort nicht zu einer relevanten Gefahr für den Einzelnen führt. Das Risiko, durch Kampfhandlungen, Anschläge oder sonstige Gewalt (auch) gegen Zivilisten verletzt oder getötet zu werden, liegt in Kabul unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, auch wenn die Provinz - wie schon in der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban - landesweit die höchste Zahl an konfliktbedingten zivilen Opfern zu beklagen hat. [...]