EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 29.06.2023 - C-756/21, X gg. Irland (Asylmagazin 12/2023, S. 438 ff.) - asyl.net: M31763
https://www.asyl.net/rsdb/m31763
Leitsatz:

Pflichten von Asylbehörden und Angemessenheit der Verfahrensdauer:

1. Wenn Anhaltspunkte für psychische Gesundheitsprobleme bestehen, die möglicherweise auf ein traumatisierendes Ereignis im Herkunftsland zurückzuführen sind, ist ein rechtsmedizinisches Gutachten einzuholen, wenn es sich als erforderlich oder maßgeblich erweist.

2. Wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine unangemessene Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Rechtsstreit hat, ist die Entscheidung nicht allein deshalb aufzuheben. Verzögerungen im Verfahren können nicht damit begründet werden, dass es nationale legislative Änderungen gab.

3. Eine im Antrag auf internationalen Schutz enthaltene falsche Aussage führt nicht unmittelbar zur generellen Unglaubwürdigkeit, wenn die antragstellende Person sie zurückgenommen hat, sobald sich die Gelegenheit bot.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sachverständigengutachten, psychische Erkrankung, Asylverfahrensdauer, rechtsmedizinisches Gutachten, psychische Erkrankung, Verfahrensdauer,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 5, RL 2004/83/EG Art. 23 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 39 Abs. 4
Auszüge:

[…]

Zur ersten und zur sechsten Frage betreffend die Pflicht zur Zusammenarbeit

44 Mit seiner ersten und seiner sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Pflicht zur Zusammenarbeit der Asylbehörde vorschreibt, zum einen aktuelle Informationen über alle relevanten Tatsachen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsland einer Asyl und internationalen Schutz beantragenden Person sowie zum anderen ein rechtsmedizinisches Gutachten über deren psychische Gesundheit einzuholen, wenn Anhaltspunkte für psychische Gesundheitsprobleme vorliegen, die möglicherweise auf ein in diesem Land aufgetretenes traumatisierendes Ereignis zurückzuführen sind. [...]

48 Zwar ist es nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 Sache des Antragstellers, so schnell wie möglich alle zur Begründung seines Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen, doch hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass die Behörden der Mitgliedstaaten gegebenenfalls aktiv mit dem Antragsteller zusammenarbeiten müssen, um die maßgeblichen Anhaltspunkte des Antrags zu bestimmen und zu ergänzen, wobei diese Behörden im Übrigen oft eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen haben als der Antragsteller (Urteil vom 22. November 2012, M., C-277/11, EU:C:2012:744, Rn. 65 und 66). [...]

50 Insbesondere ist, wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Beurteilung der Frage, ob die festgestellten Umstände eine Bedrohung darstellen oder nicht, aufgrund deren der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden, in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Union gehören (Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, EU:C:2010:105, Rn. 89 und 90). [...]

54 Aus der in den Rn. 48 bis 53 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 vorgesehene Pflicht zur Zusammenarbeit bedeutet, dass die Asylbehörde, hier das IPO, Anträge nicht angemessen prüfen und mithin einen Antrag nicht für unbegründet erklären kann, ohne zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag alle mit der allgemeinen Lage im Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag maßgeblich sind, und alle maßgeblichen Anhaltspunkte im Hinblick auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen.

55 Hinsichtlich der mit der allgemeinen Lage im Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag maßgeblich sind, ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2005/85, dass die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass genaue und aktuelle Informationen über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Asylbewerber und gegebenenfalls in den Staaten, durch die sie gereist sind, gesammelt werden (Urteil vom 22. November 2012, M., C-277/11, EU:C:2012:744, Rn. 67).

56 Was die maßgeblichen Anhaltspunkte im Hinblick auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2005/85 keine Beschränkung der Mittel darstellen, die die Behörden heranziehen dürfen, und insbesondere nicht ausschließen, dass im Zuge der Prüfung der Tatsachen und Umstände auf Gutachten zurückgegriffen wird, um mit größerer Genauigkeit feststellen zu können, inwieweit der Antragsteller tatsächlich internationalen Schutzes bedarf, sofern die Art und Weise, in der hierbei gegebenenfalls auf ein Gutachten zurückgegriffen wird, mit den einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere mit den in der Charta garantierten Grundrechten, in Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2018, F, C-473/16, EU:C:2018:36, Rn. 34 und 35).

57 Die somit erforderliche individuelle Prüfung kann also insbesondere die Heranziehung eines rechtsmedizinischen Gutachtens umfassen, wenn sich ein solches Gutachten als erforderlich oder maßgeblich erweist, um mit der geforderten Wachsamkeit und Vorsicht zu beurteilen, inwieweit der Antragsteller tatsächlich internationalen Schutzes bedarf, sofern die Art und Weise dieser Heranziehung u. a. mit den von der Charta garantierten Grundrechten in Einklang steht.

58 Hieraus ergibt sich, dass die Asylbehörde über einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Erforderlichkeit und Maßgeblichkeit eines solchen Gutachtens verfügt und dass es ihr, falls sie eine solche Erforderlichkeit und Maßgeblichkeit feststellt, obliegt, mit dem Antragsteller zusammenzuarbeiten, um dieses innerhalb der in der vorstehenden Randnummer genannten Grenzen einzuholen. [...]

61 Nach alledem ist auf die erste und die sechste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Pflicht zur Zusammenarbeit der Asylbehörde vorschreibt, zum einen genaue und aktuelle Informationen über alle relevanten Tatsachen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsland einer Asyl und internationalen Schutz beantragenden Person sowie zum anderen ein rechtsmedizinisches Gutachten über deren psychische Gesundheit einzuholen, wenn Anhaltspunkte für psychische Gesundheitsprobleme vorliegen, die möglicherweise auf ein in diesem Land aufgetretenes traumatisierendes Ereignis zurückzuführen sind, und wenn sich die Heranziehung eines solchen Gutachtens als erforderlich oder maßgeblich erweist, um zu beurteilen, inwieweit der Antragsteller tatsächlich internationalen Schutzes bedarf, sofern die Art und Weise der Heranziehung eines solchen Gutachtens u. a. mit den von der Charta garantierten Grundrechten in Einklang steht.

Zur zweiten und zur dritten Frage betreffend die verfahrensrechtlichen Konsequenzen einer Verletzung der Pflicht zur Zusammenarbeit

62 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass die im Rahmen der Ausübung einer im nationalen Recht vorgesehenen zweitinstanzlichen gerichtlichen Kontrolle erfolgte Feststellung einer Verletzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Pflicht zur Zusammenarbeit für sich genommen zur Aufhebung der Entscheidung führt, mit der ein Rechtsbehelf gegen eine abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird, oder ob demjenigen, der internationalen Schutz beantragt, auferlegt werden kann, nachzuweisen, dass die den Rechtsbehelf zurückweisende Entscheidung anders hätte ausfallen können, wenn diese Verletzung nicht gegeben wäre. [...]

72 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass die im Rahmen der Ausübung einer im nationalen Recht vorgesehenen zweitinstanzlichen gerichtlichen Kontrolle erfolgte Feststellung einer Verletzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Pflicht zur Zusammenarbeit für sich genommen nicht zwingend zur Aufhebung der Entscheidung führt, mit der ein Rechtsbehelf gegen eine abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird, da demjenigen, der internationalen Schutz beantragt, auferlegt werden kann, nachzuweisen, dass die den Rechtsbehelf zurückweisende Entscheidung anders hätte ausfallen können, wenn diese Verletzung nicht gegeben wäre.

Zur vierten und zur fünften Frage betreffend eine angemessene Frist

73 Mit seiner vierten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 23 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85, dahin auszulegen ist, dass die Zeitspannen, die zwischen der Einreichung des Asylantrags auf der einen sowie dem Erlass der Entscheidungen der Asylbehörde und des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts auf der anderen Seite verstrichen sind, durch in dem Mitgliedstaat während dieser Zeit eingetretene legislative Änderungen gerechtfertigt werden können und, sollte dies nicht der Fall sein, ob die etwaige Unangemessenheit einer dieser Zeitspannen für sich genommen zur Aufhebung der Entscheidung des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts führt. [...]

76 Da die Mitgliedstaaten nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85 sicherstellen, dass das Verwaltungsverfahren so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird, die Mitgliedstaaten nach Art. 39 Abs. 4 dieser Richtlinie ausdrücklich für das zuständige Gericht Fristen für die Prüfung der Entscheidung der Asylbehörde vorsehen können und es ausweislich des elften Erwägungsgrundes der Richtlinie 2005/85 im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Asylbewerber liegt, dass über Asylanträge so rasch wie möglich entschieden wird, ruft schließlich diese Richtlinie zu einer raschen Prüfung sowohl der Anträge auf internationalen Schutz als auch der Rechtsbehelfe auf, die insbesondere gegen abschlägige Entscheidungen über diese Anträge eingelegt werden. [...]

81 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 103 bis 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann aber eine etwaige Nichteinhaltung des Erfordernisses, Rechtssachen auf dem Gebiet des internationalen Schutzes in der Phase des Verwaltungsverfahrens und des gerichtlichen Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist zu bearbeiten, nicht für sich genommen zur Folge haben, dass eine Entscheidung aufgehoben wird, mit der ein Rechtsbehelf gegen eine abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wurde, es sei denn, das Überschreiten einer angemessenen Frist hatte eine Verletzung der Verteidigungsrechte zur Folge. [...]

84 Daher ist es, auch wenn die dem Gerichtshof vorgelegte Akte kein Element enthält, mit dem nachgewiesen werden soll, dass die gegebenenfalls bestehende Unangemessenheit der einen oder anderen der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitspannen eine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte von X zur Folge hatte, Sache des vorlegenden Gerichts, diesen Umstand zu prüfen.

85 Nach alledem ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 23 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85, dahin auszulegen ist, dass

- die Zeitspannen, die zwischen der Einreichung des Asylantrags auf der einen sowie dem Erlass der Entscheidungen der Asylbehörde und des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts auf der anderen Seite verstrichen sind, nicht durch nationale legislative Änderungen gerechtfertigt werden können, die während dieser Zeit eintraten, und

- die Unangemessenheit der einen oder anderen dieser Zeitspannen in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Dauer des Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, für sich genommen nicht zur Aufhebung der Entscheidung des zuständigen  erstinstanzlichen Gerichts führen kann.

Zur siebten Frage betreffend die generelle Glaubwürdigkeit eines Antragstellers

86 Mit seiner siebten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 5 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass eine im ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz enthaltene Falschaussage, die vom Asylbewerber erläutert und zurückgenommen wurde, sobald sich die Gelegenheit dazu bot, für sich genommen verhindern kann, dass dessen generelle Glaubwürdigkeit im Sinne dieser Bestimmung festgestellt wird. [...]

92 Wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann sich die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers nicht darauf beschränken, die in Art. 4 Abs. 5 Buchst. a bis d der Richtlinie 2004/83 genannten Voraussetzungen zu berücksichtigen, sondern ist, wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, unter Berücksichtigung aller anderen relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls im Wege einer individuellen Gesamtbeurteilung vorzunehmen.

93 Im Rahmen dieser Analyse stellt eine im ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz enthal tene Falschaussage sicherlich einen zu berücksichtigenden maßgeblichen Anhaltspunkt dar. Gleichwohl kann dieser nicht für sich genommen die Feststellung der generellen Glaubwürdigkeit des Antragstellers verhindern. Ebenfalls relevant sind nämlich der Umstand, dass diese Falschaussage durch den Asylbewerber erläutert und zurückgenommen wurde, sobald sich die Gelegenheit hierfür bot, die Angaben, die an die Stelle dieser Falschaussage traten, und das weitere Verhalten des Asylbewerbers.

94 Sollte die Beurteilung aller relevanten Gesichtspunkte des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens dazu führen, dass die generelle Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers nicht festgestellt werden kann, können mithin seine Aussagen, die nicht durch Beweise belegt sind, eines Nachweises bedürfen; in diesem Fall kann es dem betroffenen Mitgliedstaat obliegen, mit dem Antragsteller, wie insbesondere in den Rn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, zusammenzuarbeiten, um die Zusammenstellung aller zur Begründung des Asylantrags geeigneten Anhaltspunkte zu ermöglichen.

95 Nach alledem ist auf die siebte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 5 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass eine im ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz enthaltene Falschaussage, die vom Asylbewerber erläutert und zurückgenommen wurde, sobald sich die Gelegenheit dazu bot, für sich genommen nicht verhindern kann, dass dessen generelle Glaubwürdigkeit im Sinne dieser Bestimmung festgestellt wird. [...]