VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 15.06.2023 - 2 B 140/23 - asyl.net: M31754
https://www.asyl.net/rsdb/m31754
Leitsatz:

Anerkannt Schutzberechtigten droht in Griechenland weiterhin erniedrigende Behandlung:

"1. Die Aufnahmebedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland sind nach wie vor prekär. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die griechische Regierung diese Lebensbedingungen bewusst toleriert und den Schutzberechtigten Unterstützung verweigert, um die Migration nach Griechenland durch Abschreckung einzudämmen.

2. Die Teilnahme am HELIOS-Programm ist auch kurzfristig nach Griechenland rückgeführten anerkannten Schutzberechtigten regelmäßig nicht möglich.

3. Das Fehlen einer dauerhaften Unterkunft begründet typischerweise eine Situation extremer materieller Not. Die Annahme einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung kann nicht verneint werden, indem anerkannte Schutzberechtigte darauf verwiesen werden, zeitweise Notschlafstellen in Anspruch zu nehmen oder in informellen Siedlungen zu kampieren."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, HELIOS, Verelendung, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die vorstehenden Grundsätze vorausgesetzt ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC oder Art. 3 EMRK droht. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass er in Griechenland obdachlos werden und damit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und seine elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte [...].

Aus aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich keine Verbesserung der von den genannten Gerichten zugrunde gelegten Sachlage. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Athen berichtet, obwohl sich die die Ankunftszahlen von Flüchtlingen und irregulär einreisenden Migranten in Griechenland seit März 2020 deutlich verringert habe, habe sich die Situation von Schutzberechtigten seit 2015 nicht wesentlich verbessert [...]. Nach einem aktuellen Bericht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreichs ist die Zahl der Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose in Griechenland noch immer nicht ausreichend und die Unterkünfte sind stets überfüllt. Nach einer kürzlich durchgeführten Studie sind durchschnittlich 18 von 64 Personen mit internationalem Schutzstatus obdachlos oder befinden sich in prekären Wohnverhältnissen; 14 von 64 sind unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht [...].

Es ist anzunehmen, dass sich die Aufnahmebedingungen auch in naher Zukunft nicht verbessern werden. [...]

Zudem wird dem Antragsteller entgegen der Darstellung der Antragsgegnerin selbst bei einer zeitnahen Rückführung nicht die Teilnahme am sog. HELIOS-Programm ("Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection") möglich sein. Das HELIOS-Programm bietet Hilfestellung bei der Integration in die griechische Gesellschaft mittels Integrationskursen sowie Unterstützung bei der Arbeits- und Wohnungssuche an. Es werden monatliche Mietzuschüsse gezahlt, die für Alleinstehende bei 162 Euro liegen. [...] Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Programm für anerkannt international Schutzberechtigte ist zum einen, dass die Anmeldung nicht länger als ein Jahr nach der Zuerkennung des Schutzstatus erfolgt. Diese Frist könnte der Antragsteller noch einhalten. Ferner setzt der Zugang zum Programm jedoch voraus, dass sich der Antragsteller offiziell registriert und ansässig in einer Flüchtlingsaufnahmeeinrichtung, einem Empfangs- und Identifikationszentrum (RIC), einem Hotel des IOM FILOXENIA-Projekts oder in einer Wohnung des ESTIA-Programms ist (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, 01.02.2023, S. 5). Das Programm, welches anerkannt Schutzberechtigten also zu einer Wohnung verhelfen soll, setzt voraus, dass sie bereits über eine Unterkunft verfügen [...].

Es bestehen im vorliegenden Einzelfall schließlich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Freunde oder Verwandte des Antragstellers ihn bei einer Rückkehr nach Griechenland für einen längeren Zeitraum bei sich aufnehmen oder ihn in einem Maße unterstützen könnten, welches es ihm ermöglichen würde, zeitnah eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten [...].

In der dem Antragsteller drohenden Obdachlosigkeit liegt auch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC [...]. Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem Urteil vom 27.03.2023 im Hinblick auf drohende Obdachlosigkeit anerkannter Schutzberechtigter in Italien vertritt, "eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit [sei] für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not" (OVG Rheinland-Pfalz - 13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 59), so entbehrt diese Wertung jeder sachlichen Grundlage und widerspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. [...]