Familienschutz für minderjähriges Kind setzt keine familiäre Lebensgemeinschaft voraus:
Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Familienschutz gemäß § 26 Abs. 2, Abs. 5 AsylG ist nicht, dass das minderjährige Kind eines als Flüchtling anerkannten Elternteils mit diesem stammberechtigten Elternteil in familiärer Gemeinschaft lebt.
(Leitsätze der Redaktion; so auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.12.2020 - 3 N 189/20 - asyl.net: M29324; anderer Ansicht: VG München, Urteil vom 23.02.2022 - M 32 K 21.30451 - gesetze-bayern.de)
[...]
3 Hiergegen richtet sich der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung vom 4. Februar 2021. Sie hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob ein über § 26 AsylG abzuleitender Zuerkennungsanspruch ausscheide, wenn im Bundesgebiet die familiäre Gemeinschaft zwischen dem Angehörigen und dem Stammberechtigten, von dem der Anspruch abgeleitet werden solle, nicht bestehe. [...]
4 Der fristgerecht gestellte und begründete Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 8. Januar 2021 hat mit dem allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) keinen Erfolg. [...]
6-8 [...] Das Verwaltungsgericht ist nämlich zutreffend davon ausgegangen, dass Voraussetzung für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG nicht ist, dass ein minderjähriges Kind eines als Flüchtling anerkannten Elternteils mit diesem stammberechtigten Elternteil in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt.
9 1. Für dieses Normverständnis spricht zunächst der Wortlaut von § 26 Abs. 2 AsylG, wonach ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten auf Antrag als asylberechtigt anerkannt wird, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird diese Regelung auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend angewendet, wobei an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft bzw. der subsidiäre Schutzstatus tritt. Das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit dem stammberechtigten Flüchtling ist nach dem Wortlaut nicht Voraussetzung für die Zuerkennung. Das macht auch die Beklagte nicht geltend; sie argumentiert lediglich dahingehend, dass der Tatbestand um ungeschriebene Voraussetzungen zu erweitern sei. Das ist nach Auffassung des Senats indes nicht der Fall. Es fehlt an jeglichem Anknüpfungspunkt im Gesetzestext für das von der Beklagten angenommene ungeschriebene Erfordernis einer bestehenden familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland [...].
10 Es sind keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich, die eine über diesen Wortlaut hinausgehende Auslegung zulassen würden. [...] Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen. [...]
16 3. Gegenteilige Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus der Gesetzgebungshistorie. Das für die Gewährung von Familienasyl bestehende Leitbild einer noch bestehenden Lebensgemeinschaft zwischen dem minderjährigen ledigen Kind und dem Stammberechtigten hat der Gesetzgeber bereits mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz zugunsten eines einheitlichen Rechtsstatus des Stammberechtigten und seiner minderjährigen Kinder aufgegeben. Das Interesse an einem einheitlichen Rechtsstatus und nach einem gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status für die engsten Familienangehörigen war nach der Begründung des Gesetzentwurfes (BT-Drs. 12/2718, S. 60) bereits bei der Erweiterung des Kreises der familienasylberechtigten Kinder auf die nach der Anerkennung des Asylberechtigten geborenen Kinder durch das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens leitendes Motiv des Gesetzgebers (ausführlich dazu: Hamb. OVG, Beschluss vom 14.12.2020 – 6 Bf 240/20.AZ –, juris, Rn. 23 f. m.w.N.). [...]
17 4. Schließlich sprechen auch Sinn und Zweck der Regelung dafür, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem minderjährigen Kind und dem im Sinne des § 26 Abs. 2 AsylG Stammberechtigten nicht zwingend bei Beantragung der Rechtsstellung aus § 26 AsylG bestehen muss. Die Erstreckung des internationalen Schutzes auf enge Familienangehörige eines international Schutzberechtigten, die § 26 AsylG unabhängig davon vorsieht, ob auch in eigener Person Schutzgründe vorliegen, hat nach nationalem Recht eine Doppelfunktion (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 18.12.2019 – 1 C 2.19 –, juris, Rn. 19).
18 Zum einen knüpft sie an die Erfahrung an, dass im Kampf gegen oppositionelle Kräfte unduldsame Staaten dazu neigen, anstelle des politischen Gegners, dessen sie nicht habhaft werden können, auf Personen zurückzugreifen, die dem Verfolgten besonders nahestehen, um hierdurch in der einen oder anderen Weise ihr auf Unterdrückung abweichender Meinungen gerichtetes Ziel doch noch zu erreichen. [...]
19 Zum anderen setzt § 26 AsylG den durch Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU gebotenen Familienschutz für Familienangehörige, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, in vom Unionsrecht so nicht gebotener Weise "überschießend" um [...]. § 26 AsylG dient der Erfüllung der aus der Richtlinie 2011/95/EU und insbesondere deren Art. 23 Abs. 1 gründenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, aufrechterhalten werden kann. [...]