VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 23.05.2022 - 10 K 1338/20.GI - asyl.net: M31752
https://www.asyl.net/rsdb/m31752
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen homosexuellen Mann aus Algerien:

1. Homosexuelle Handlungen sind nach dem algerischen Strafgesetzbuch strafbar, und die entsprechenden Normen finden in der Rechtspraxis regelmäßig Anwendung. Gleichwohl findet eine systematische Verfolgung homosexueller Personen nicht statt, sondern diese werden nur dann strafrechtlich verfolgt, wenn Homosexualität offen ausgelebt wird.

2. Ob - wie zum Teil in der verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung vertreten - nicht nur "Diskretion" nicht verlangt werden dürfe, sondern auch eine Prognose darüber unzulässig ist, ob die betroffene Person ihre Homosexualität bei Rückkehr (offen) leben würde, kann dahinstehen. Denn der Kläger lebt seine Homosexualität offen aus.

3. Der Kläger könnte bei Rückkehr seine Homosexualität nur in Diskretion leben, was ihm nicht zuzumuten ist, oder würde die realistische Gefahr provozieren, staatlicher Verfolgung ausgesetzt zu sein. Ihm droht deshalb in Algerien landesweit Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Minden, Gerichtsbescheid vom 16.08.2022 - 10 K 2157/22.A - asyl.net: M30994; siehe zu LS. 2: VG Würzburg, Urteil vom 27.07.2022 - W 1 K 22.30060 - asyl.net: M31323; VG Braunschweig, Urteil vom 09.08.2021 - 2 A 77/18 (Asylmagazin 12/2021, S. 428 ff.) - asyl.net: M30055)

Schlagwörter: Algerien, homosexuell, Strafbarkeit, Prognose, Diskretion, Strafverfahren, soziale Gruppe, staatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Bei zusammenfassender Würdigung der Erkenntnislage und der individuellen Verhältnisse des Klägers ist das Gericht jedoch davon überzeugt, dass diesem bei einer Rückkehr nach Algerien wegen seiner offen gelebten Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Repressionen durch den Staat zu befürchten hätte, § 3c Nr. 1 AsylG, sofern er seine sexuelle Orientierung nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde, was ihm allerdings nicht zumutbar ist [...].

Der Einzelrichter geht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass Homosexuellen in Algerien nicht bereits grundsätzlich eine Verfolgung droht - dies jedoch im Einzelfall dann der Fall sein kann, wenn die Homosexualität offen ausgelebt wird.

Als homosexueller Mann in Algerien gehört der Kläger zu einer sozialen Gruppe, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]

Homosexuelle Handlungen wie der gleichgeschlechtliche Geschlechtsakt sind in Algerien nach Art. 338 des Strafgesetzbuchs strafbar. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezug zur Homosexualität vor [...].

Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle treffen, erlaubt bereits die Feststellung, dass Homosexuelle in Algerien eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden [...].

Allerdings kann das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, nicht bereits als Maßnahme betrachtet werden, die den Kläger in so erheblicher Weise beeinträchtigen, dass der Grad an Schwere erreicht ist, der erforderlich ist, um diese Strafbarkeit als Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG anzusehen (vgl. EuGH, a.a.O.).

Deshalb ist eine staatliche Verfolgungshandlung nach § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylG nur anzunehmen, aber zugleich gegeben, wenn entsprechende Rechtsvorschriften angewendet und die dort vorgesehenen Freiheitsstrafen in der Praxis tatsächlich verhängt werden [...]. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Die Situation Homosexueller in Algerien stellt sich derzeit wie folgt dar:

Art. 333 und Art. 338 des algerischen Strafgesetzbuches finden in der Rechtspraxis regelmäßig Anwendung, wobei die Zahl anhängiger Verfahren nicht überprüfbar ist. Die Vorschriften sehen ein Strafmaß einer Geldstrafe bis hin zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, ist ein Minderjähriger involviert, bis zu drei Jahren, vor. Bestraft wird jedoch nicht bereits die Veranlagung, homosexuell zu sein. Insbesondere Art. 333 wird von den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Verhinderung der Gründung von Schutzorganisationen homosexueller Personen herangezogen. Gleichwohl findet eine systematische Verfolgung homosexueller Personen nicht statt. Homosexualität wird für die Behörden dann strafrechtlich relevant, wenn sie offen ausgelebt wird. Homosexualität ist ein Tabu-Thema. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Homosexuelle durch islamistische Gruppen gefährdet sind. [...]

In arabischsprachigen Medien kommt es immer wieder zu homophoben Äußerungen, als auch Hassartikeln. Es gibt Berichte darüber, dass die Polizei Diskriminierung oder gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle duldet [...].

Viele Algerier leben ihre Homosexualität nicht offen aus, um Diskriminierung, familiäre und soziale Ausgrenzung oder Belästigungen zu vermeiden. [...]

Ob, wie jüngst in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vertreten, eine Diskretion nicht nur nicht verlangt werden dürfe, sondern auch sämtliche Unterstellungen oder eine Prognose dahingehend, wie sich der Betroffene möglicherweise bei einer Rückkehr in sein Heimatland verhalten würden, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig sei (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 09.08.2021 - 2 A 77/18 -, Rn. 48, juris), kann vorliegend dahinstehen. Der Kläger hat glaubhaft dargelegt, seine Homosexualität in Deutschland nunmehr offen auszuleben und bereits mehrere Beziehungen gehabt zu haben, wovon der Einzelrichter aufgrund des insgesamt konsistenten Vortrags überzeugt ist. [...] Dass es für den Kläger enorme Bedeutung hat, seine Sexualität auszuleben, ergibt sich für den Einzelrichter auch aus dem Umstand, dass der Kläger sich aufgrund seines Lebens als Homosexueller in Algerien bereits in psychologischer Behandlung befunden hat und ihm auch kurz nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland eine reaktive, schwere Depression attestiert wurde, als Folge seiner im Heimatland nicht akzeptierten Homosexualität (vgl. Dokumentenlisten-Nummer 66 f. d. Behördenakte). Er schilderte damit (auch ungeachtet der familiären Situation) unter den mit seiner Homosexualität verbundenen Zuständen zu leiden. [...]

Die vorstehend zusammengefasste Auskunftslage belegt zudem zur Überzeugung des Einzelrichters in ausreichendem Maße, dass offen gelebte Homosexualität im Falle des Klägers in Algerien strafrechtlich relevant und mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit verfolgt wird [...]. Es ist insbesondere nicht davon auszugehen, dass die algerischen Behörden eine entsprechend offen gelebte Homosexualität tatsächlich dulden würden. Der Kläger könnte daher entweder nur erneut darauf zurückgreifen, seine Homosexualität in Diskretion und Geheimhaltung zu leben - was ihm nicht zumutbar ist - oder die realistische Gefahr zu provozieren, staatlicher Verfolgung ausgesetzt zu sein. Diese Gefahr besteht zudem landesweit, interner Schutz, § 3e AsylG, ist nicht ersichtlich. [...]