LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.06.2023 - L 8 AY 16/23 B ER (Asylmagazin 9/2023, S. 330 ff.) - asyl.net: M31750
https://www.asyl.net/rsdb/m31750
Leitsatz:

Medizinische Leistungen für Kinder während des Asylverfahrens:

Will eine Behörde bei minderjährigen Asylbewerber*innen die Kostenübernahme für medizinisch erforderliche Behandlungen verweigern, weil diese nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich seien, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung. Dies gebietet das Kindeswohl, das bei allen Regelungen vorrangig zu berücksichtigen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: medizinische Versorgung, Asylbewerberleistungsgesetz, minderjährig, Kindeswohl, Kinderrechtskonvention, menschenwürdiges Existenzminimum, Menschenwürde, medi
Normen: AsylbLG § 4, ASylbLG § 6, UN-KRK Art. 3, GG Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 21
Auszüge:

[…]

Ein Anspruch auf Übernahme der Operationskosten ergibt sich wegen der beim Antragsteller vorliegenden ausgeprägten Dauerschmerzen voraussichtlich bereits aus § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Danach sind zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren. Nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6.5.2013 - L 20 AY 145/11 - juris Rn. 52 ff., 66; SG Heilbronn, Urteil vom 13.4.2021 - S 2 AY 3764/19 - juris Rn. 21; Langer in GK-AsylbLG, Stand Oktober 2019, § 4 Rn. 23 ff.; Deibel in GK-AsylbLG, Stand Februar 2023, § 6 Rn. 139 ff.; Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 4 Rn. 23 ff. sowie § 6 Rn. 39 m.w.N.), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 1.10.2013 - L 8 AY 38/13 B - nicht veröffentlicht; zuletzt Senatsurteile vom 6.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18 - jeweils juris), erfolgt die Abgrenzung der Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG und § 6 AsylbLG danach, ob die Behandlung Schmerzzustände bzw. eine akute, also eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung betrifft (Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) oder eine chronische, also eine langsam sich entwickelnde oder langsam verlaufende Erkrankung (Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG). Diese Abgrenzung erfolgt nach medizinischen Gesichtspunkten und ist im Einzelfall schwierig, weil mit chronischen Erkrankungen akute, konkret behandlungsbedürftige Krankheitszustände einhergehen können (z.B. bei schwerer Depression mit akuter Suizidalität oder einhergehenden Schmerzen, vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.9.1999 - 4 M 3551/99). Schmerzzustände i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG müssen nach allgemeiner Meinung ihrer Natur nach nicht akut sein, um einen Behandlungsanspruch zu begründen (vgl. K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 4 Rn. 53 m.w.N.). Welche Behandlung insoweit erforderlich ist, also die Behandlung des für die Schmerzen ursächlichen regelwidrigen Gesundheitszustandes (ggf. einer chronischen Erkrankung) oder eine (kostengünstigere) Schmerzmedikation, beurteilt sich nach der Geeignetheit der Maßnahmen und ist eine Frage des Einzelfalles (vgl. auch Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl 2020, § 4 Rn. 34).

Nach diesen Maßgaben bestehen erhebliche Zweifel, ob die derzeit beim Antragsteller durchgeführte Behandlung mit Analgetika aus medizinischer Sicht einer operativen Korrektur der für die dauerhaften Schmerzen ursächlichen Verformungen der unteren Extremitäten vorzuziehen ist. Dies wäre im Rahmen der Erforderlichkeit der Maßnahme nur dann der Fall, wenn die ggf. nur vorübergehende Schmerzmedikation gegenüber einer Operation in gleicher (oder sogar besserer) Weise geeignet ist, die Schmerzzustände zu behandeln. Diese Voraussetzung liegt hier nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht vor. Nach der Stellungnahme des Gesundheitsamtes der Stadt … vom ... 2023 leidet der Antragsteller - nach seinen anamnestischen Angaben und den damit inhaltlich übereinstimmenden Antworten seiner Mutter - unter seinen Nachtschlaf beeinträchtigenden Dauerschmerzen mit einer sehr starken Schmerzintensität (von 4 bis 5 auf einer Skala von 0 bis 5), die nur in einem eingeschränkten Maß durch die Einnahme von Analgetika reduziert werden kann (auf eine Intensität von 3). Nach der Schmerzempfindungsskala für Jugendliche (SES-J) hat der Antragsteller die Schmerzen aus seiner Sicht als genau zutreffend mit "grausam, elend, schauderhaft, furchtbar, unerträglich, brennend und drückend" beschrieben sowie als weitgehend zutreffend mit "mörderisch, scheußlich, hämmernd und pulsierend." Unter diesen Umständen kann eine Schmerzmedikation nur eine bloß vorübergehende Behandlung darstellen. Jedenfalls seit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des BAMF vom 11.7.2022 durch das VG Braunschweig (Beschluss vom 23.5.2023 - 8 B 201/22) und dem damit prognostisch längeren Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland ist die operative Korrektur der unteren Extremitäten wahrscheinlich die besser geeignete Maßnahme. Nach den amtsärztlichen Stellungnahmen vom 2.8.2022 und 16.3.2023 besteht nämlich mit der operativen Behandlung eine gute Möglichkeit, dass die Gehfähigkeit des Antragstellers wiederhergestellt wird mit einer deutlichen Reduzierung der Dauerschmerzen bis hin zur Schmerzfreiheit.

Daneben dürfte der Antragsteller den geltend gemachten Behandlungsanspruch auch auf § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG stützen können. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist im Grundsatz eröffnet, weil die Erkrankung des Antragstellers, die hypophosphatämische Rachitis, keine akute, sondern eine chronisch-progressive Erkrankung ist. […]

Nach der Rechtsprechung des Senats sind bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Unerlässlichkeit einer Leistung i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2 AsylbLG - neben den Umständen des Einzelfalles - Kriterien einzubeziehen wie z.B. die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), das Ausmaß und die Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) eine besondere Bedeutung zu, weil nach dem Regelungskonzept des AsylbLG vom allgemeinen Grundsicherungsrecht (SGB II/SGB XII) abweichende Regeln der Existenzsicherung (gesetzgeberisch) nur möglich sind, wenn wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können (ständige Rechtsprechung des Senates seit Beschluss vom 1.2.2018 - L 8 AY 16/17 B ER - juris Rn. 27; jüngst Senatsurteile vom 6.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18 - jeweils juris; ähnlich Hessisches LSG, Beschluss vom 11.7.2018 - L 4 AY 9/18 B ER - juris Rn. 28; vgl. auch Müller-Krah, GuP 2012, 132 ff.; Schülle/Frankenstein, DVfR Forum A, A16-2019; K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 41; krit. Kötter, info also 2018, 243, 246; grundlegend zur problematischen Grundrechtskonformität L. Frerichs, Der Anspruch auf Krankenbehandlung nach §§ 4, 6 AsylbLG, Berlin 2023, S. 366 ff.). Im Lichte des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) sieht sich der Senat veranlasst, seine Rechtsprechung in Bezug auf die medizinische Behandlung von minderjährigen Kindern nach §§ 4, 6 AsylbLG zu präzisieren. Die Wertung aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 AsylbLG, nach dem sonstige Leistungen gewährt werden können, die zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten sind, und die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) vom 20.11.1989 (BGBl. II 1992, 121), die in Deutschland seit dem 15.7.2010 vorbehaltlos gilt (BGBl. II 2011, 600) und nach der bei allen Regelungen das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist (Art. 3 KRK; vgl. dazu auch BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 68), gebieten bei der Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG eine besondere Rechtfertigung, wenn eine nach den hiesigen Lebensverhältnissen (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 60) medizinisch an sich erforderliche Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw. minderjährige Grundleistungsberechtigte (zum Begriff des Kindes i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 AsylbLG vgl. Deibel in GK-AsylbLG, Stand Februar 2023, § 6 Rn. 183 ff, 186; K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 92 m.w.N.) als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich abgelehnt wird. In diesem Zusammenhang sind auch europarechtliche Vorgaben für die medizinische Behandlung von Personen mit besonderen Bedürfnissen zu beachten (z.B. nach Art. 21 der Richtlinie Aufnahmebedingungen - RL 2013/33/EU - Abl. EU L 180 v. 29.6.2013, S. 96, dazu Senatsbeschluss vom 1.2.2018 - L 8 AY 16/17 B ER - juris Rn. 28; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 68; Greiser/Frerichs, SGb 2018, 213, 214, 220; Krauß in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 6 Rn. 11; Schreiber, ZESAR 2010, 107 ff.; Schülle/Frankenstein, DVfR Forum A, A16-2019; K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 26 ff. m.w.N.). […]

Nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere seiner voraussichtlichen Aufenthaltsdauer in Deutschland, ist es sachlich nicht gerechtfertigt, dem minderjährigen Antragsteller die - auch in zeitlicher Sicht - medizinisch dringend indizierte Maßnahme vorzuenthalten. Hierfür spricht auch und in besonderer Weise die wegen des Ablaufs der sog. Wartezeit (18 Monate) voraussichtlich am 22. bzw. 23.8.2023 bevorstehende Angleichung des Leistungsniveaus nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII, nach der die stationäre Maßnahme im Rahmen der sog. Quasi-Versicherung nach § 264 Abs. 2 SGB V (weiterhin auf Kosten des Antragsgegners, vgl. § 264 Abs. 7 SGB V) entsprechend dem Leistungsniveau der Gesetzlichen Krankenversicherung beansprucht werden kann. Für die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens in der Person des (noch) minderjährigen Antragstellers liegen keine Anhaltspunkte vor. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt es nicht entscheidend darauf an, ob hier der personelle Anwendungsbereich der Richtlinie Aufnahmebedingungen eröffnet ist und europarechtliche Vorgaben, namentlich nach § 19 Abs. 2 RL 2013/33/EU, den Behandlungsanspruch des Antragstellers begründen können. Diese ggf. noch durchzuführende Prüfung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Das in der Rechtsfolge nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG an sich eingeräumte Ermessen ist hier auf der Ebene der Entschließung (das "ob" der Leistung) wegen der Bejahung der Unerlässlichkeit der Behandlung auf Tatbestandsebene nicht mehr eröffnet (sog. Ermessensreduzierung auf Null; zur Ausgestaltung der Norm als Ermessensvorschrift vgl. K. Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 6 AsylbLG Rn. 40 f. m.w.N.). Alternative Behandlungsmöglichkeiten sind nicht ersichtlich; dies gilt insbesondere für eine Fortführung der Schmerzmedikation auf Dauer (s.o.). […]