Systemische Mängel in Frankreich für Kleinstkind wegen drohender Obdachlosigkeit:
1. Die regulären Plätze zur Unterbringung Asylsuchender in Frankreich reichten in den vergangenen Jahren fortlaufend nicht aus. Viele Dublin-Rückkehrende sind von Obdachlosigkeit betroffen. Schätzungen zufolge konnten in 2021 etwa 70.000 Asylsuchende in Frankreich nicht untergebracht werden, sodass von den Anspruchsberechtigten effektiv nur 59 % tatsächlich untergebracht worden sind.
2. Für vulnerable Dublin-Rückkehrende ist die Lage besonders schwierig. Aufgrund des Risikos einer möglichen Obdachlosigkeit für das Kleinstkind und seine alleinerziehende Mutter, besteht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, sodass der Dublin Bescheid wegen systemischer Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO aufzuheben ist.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Dem Kläger droht in Frankreich sowohl in dem Zeitraum zwischen seiner Rückführung und der förmlichen Asylantragstellung wie auch nach dem Abschluss seines Asylverfahrens eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung (vgl. VG Bremen, Gerichtsbesch. v. 04.07.2022 - 6 K 2242/21, 8484185 -, juris). Für die Anwendung von Art. 4 GRC ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. [...]
Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen [...].
Auch nach diesem strengen Maßstab liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ernstzunehmende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel im französischen Asylsystem vor, die für den Kläger in seiner besonderen Situation die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung des Klägers i.S.d. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK befürchten lassen. Der [Anfang] 2023 geborene Kläger gehört dabei als Kleinstkind zur Gruppe der vulnerablen Personen, welche ein besonderes Schutzbedürfnis haben.
Laut aida, Country Report: France, 2021 Update, S. 105 ff. reichten die regulären Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden in Frankreich in den vergangenen Jahren fortlaufend nicht aus. Trotz anhaltender Bemühungen Frankreichs, Obdachlosigkeit oder Notunterkünfte für Asylsuchende zu vermeiden, bleiben demnach weiterhin Unterbringungslücken. Daher seien, trotz der Möglichkeit, in regulären oder in Notunterkünften unterzukommen, praktisch viele Dublin-Rückkehrer von Obdachlosigkeit betroffen. In 2021 konnten Schätzungen zufolge etwa 70.000 Asylsuchende in Frankreich nicht untergebracht werden. Von den Anspruchsberechtigten auf Unterbringung wurden effektiv 59 % tatsächlich untergebracht.
Dürfte sich diese Lage bereits für nicht vulnerable Personengruppen als schwierig gestalten, so gilt dies in besonderem Maße für solche Menschen, die als vulnerable anzusehen sind. Im hier zu entscheidenden Verfahren müsste die alleinstehende Mutter des Antragstellers in Frankreich für sich selbst und für den minderjährigen Antragsteller aus eigener Kraft sorgen. Das begegnet aber aufgrund des Vorstehenden sowie aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung des französischen Arbeitsmarktes einigen Bedenken. Zwar gibt es Initiativen seitens des französischen Staates, stärker auf die Bedürfnisse von vulnerablen Personen im Asylverfahren einzugehen. Es gibt aber nach wie vor erhebliche Probleme bei der Umsetzung dieser Initiativen [...], sodass gegenwärtig trotz der punktuellen Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und von sonstigen gesellschaftlichen Akteuren jedenfalls nicht unwahrscheinlich ist, dass die Mutter des Antragstellers in Frankreich ihre Grundbedürfnisse (Brot, Bett, Seife) sowie die Grundbedürfnisse des Antragstellers nicht wird decken können und mithin gemeinsam mit dem Antragsteller in Frankreich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ausgesetzt wäre. Ein solches Risiko einer möglichen Obdachlosigkeit kann für vulnerable Personen, wie es insbesondere der Antragsteller als ein 6 Monate altes Kind ist, mit Blick auf Art. 3 EMRK nicht hingenommen werden. [...]