Flüchtlingsanerkennung für Person aus Tunesien wegen Kritik an der Regierung:
"1. Personen, die die tunesische Regierung insbesondere den Präsidenten Saïed sowie die Sicherheitsbehörden und die Armee kritisieren, droht eine Verfolgung durch staatliche Akteure (Rn. 20).
2. Die Verfolgung durch staatliche Akteure ist jedenfalls dann beachtlich wahrscheinlich, wenn die Äußerung der Kritik in sozialen Medien und unter Verwendung des eigenen Namens sowie des eigenen Bildes erfolgt (Rn. 27)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
20 Bei Anwendung dieser Grundsätze erfüllt der Kläger hier die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil die Furcht, dass er aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – die Gruppe derer, die die Regierung und insbesondere den Präsidenten Saïed sowie die Sicherheitsbehörden und die Armee öffentlich kritisieren – von staatlichen Akteuren verfolgt werden wird, begründet ist.
21 Dass der Kläger zu dieser sozialen Gruppe gehört, steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, weil er auf Nachfrage im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt am 31.01.2023 unverzüglich einen Facebook-Post zeigen konnte, in dem er die Sicherheitsbehörden kritisierte und erklärte, dass seine weiteren Beiträge, die er auch auf der offiziellen Seite des Präsidenten und der Polizei gepostet habe, in eine ähnliche Richtung gehen würden.
22 Dem Kläger droht wegen der Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe auch eine Verfolgung durch staatliche Akteure.
23 Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit in Tunesien zwar gewährleistet, Einschränkungen finden sich jedoch in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen verstärkte sich diese Tendenz [...]. Es gibt glaubhafte Berichte über schwerwiegende Einschränkungen des Rechts auf Meinungsfreiheit, insbesondere bezüglich Verhaftungen und Anklagen von Journalisten. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Strafgesetze genutzt wurden, um Personen zu verfolgen, die den Präsidenten, die Regierung oder Sicherheitsbehörden kritisieren [...].
24 Justizbehörden haben Ermittlungen und strafrechtliche Verfolgungen gegen mindestens 32 Kritiker mit hoher Bekanntheit und als Gegner des Präsidenten eingeschätzte Personen wegen der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung eingeleitet [...]. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen mit Strafen rechnen [...].
25 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Haftbedingungen in den Haftanstalten beziehungsweise Justizvollzugsanstalten zumeist nicht internationalen Standards entsprechen, primär aufgrund von Überbelegung und mangelhafter Infrastruktur [...]. Die 27 bzw. 28 tunesischen Haftanstalten (plus sechs Zentren für Minderjährige) sind chronisch überbelegt, es mangelt an Hygiene und den Häftlingen zur Verfügung stehende Gesundheitsversorgung bleibt unzureichend [...].
26 Einer Verletzung des Rechts auf Meinungsäußerung aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion, die alleine bereits die Schwelle zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte überschreiten dürfte, kommt aufgrund der Haftbedingungen ein zusätzliches Gewicht zu, sodass eine Verfolgungshandlung – die strafrechtliche Verfolgung, Verurteilung und Vollstreckung der Strafe – vorliegt. Weil die Strafnormen ausweislich der Erkenntnismittel angewandt werden, um Kritiker der Regierung und insbesondere des Präsidenten Saïed sowie der Sicherheitsbehörden und der Armee zu bestrafen, liegt eine diskriminierende Strafverfolgung vor, die sich nicht mehr als das legitime Recht des tunesischen Staates, Rechtsgutsverletzungen zu ahnden und die soziale Ordnung zu erhalten, sondern als Verfolgung darstellt (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG).
27 Schließlich droht dem Kläger eine Verfolgung wegen der Äußerung von Kritik an den Sicherheitsbehörden und dem Präsidenten Saïed auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die dokumentierten Fälle nicht sehr zahlreich sind und dass die Fälle, über die die Presse berichtet, vor allem Personen betreffen, die – wie etwa der Generalsekretär der oppositionellen, sozialdemokratischen Partei Demokratische Strömung Ghazi Chaouachi – eine herausgehobene Stellung innehaben. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das mediale Interesse an der Berichterstattung über Personen, die eine herausgehobene Stellung innehaben – wie hochrangige Journalisten oder Oppositionspolitiker –, höher ist, als bei Personen, die eine solche Stellung nicht innehaben. Es gibt auch Berichte über Verurteilungen wegen der Veröffentlichung von Blogbeiträgen oder Facebook-Posts durch Personen, die gerade keine herausgehobene Stellung innehaben. [...] Ausweislich des Berichts "Autoritäre Kehrtwende in Tunesien" des Deutschlandfunks vom 20.06.2023 [...] erklärte der Vorsitzende des tunesischen Journalistenverbands, dass die Repression nicht mehr nur Politiker treffe, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, sondern auch Journalisten, Aktivisten, NGOs, jugendliche Musiker und wer immer mit der Linie der Regierung nicht übereinstimme. Expertinnen und Experten würden – so der Bericht des Deutschlandfunks – nur noch über Wirtschaft und Soziales, nicht über Politik sprechen. Mitglieder der Zivilgesellschaft würden gar nicht mehr oder nur anonym zitiert werden wollen und bei Straßenumfragen antworte bei politischen Fragen kaum noch jemand. [...]
28 Das Gericht geht zudem davon aus, dass es eine nicht unerhebliche Dunkelziffer bezüglich der Verfahren gegen Kritiker der Regierung, der Sicherheitsbehörden und von Präsident Saïed geben dürfte. Diese Annahme wird auch durch den Bericht des Deutschlandfunk Kultur über eine Verhaftungswelle, wie es sie noch nie gegeben habe, gestützt, wenn auch im Bericht keine zahlenmäßige Quantifizierung vorgenommen wird. Eine genaue zahlenmäßige Einordnung der Verfolgungshandlungen ist vor dem Hintergrund, dass das Gericht weder feststellen kann, wie viele der Kommentare aus dem Ausland stammen noch die oben dargestellte Dunkelziffer näher ermitteln beziehungsweise eingrenzen könnte, nicht möglich. Im Falle des Klägers ist jedoch zu berücksichtigen, dass er die Kommentare unter seinem eigenen Namen und unter Verwendung seines eigenen Bildes veröffentlichte, sodass eine Zuordnung und Verfolgung des Klägers im Vergleich zu Personen, die sich derzeit in Tunesien befinden und unter dem Eindruck der Repressionen unter Verwendung falscher Identitäten im Internet Beiträge veröffentlichen, deutlich einfacher ist. [...]