Unbeachtlichkeitsregelungen hinsichtlich aufenthaltsrechtlicher Strafvorschriften im gesamten Aufenthaltsrecht zu beachten:
"1. Die vom Gesetzgeber in den § 19d Abs. 1 Nr. 7, § 25a Abs. 3, § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG festgelegten Strafmaßgrenzen für die Unbeachtlichkeit von Delikten, die nur von Ausländern begangen werden können (und damit typischerweise die einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland betreffen), sind nicht nur im unmittelbaren Anwendungsbereich der genannten Vorschriften zu berücksichtigen, sondern auch im Rahmen der systematischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in anderen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, wenn es um die Gewichtung einwanderungspolitischer Belange der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Bleibeinteressen eines Ausländers geht.
2. Zu der Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Abschiebung einer drittstaatsangehörigen Straftäterin der Schutz des Wohls ihres acht Monate alten Kindes, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, entgegensteht."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
10 b) Die Antragstellerin hat außerdem glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anordnungsanspruch zusteht. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats kann sie eine Verfahrensduldung beanspruchen. Diese bezieht sich auf der Antragstellerin vermutlich zustehende Titelerteilungsansprüche nach § 25 Abs. 5 und § 28 Abs. 1 AufenthG.
11 aa) Die Verfahrensduldung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers setzt voraus, dass die Aussetzung seiner Abschiebung geboten ist, weil keine Zweifel am Anspruch auf Titelerteilung bestehen beziehungsweise - wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist - keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen können [...].
12 bb) Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Antragstellerin vor. [...]
15 (b) Im vorliegenden Fall spricht viel für die Annahme, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erfüllt sind. Der Senat hält es für weit überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin mit Blick auf den verfassungs-, konventions- und unionsrechtlichen Schutz des Kindeswohls, der Familie und des Privatlebens (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EU-GR-Charta) aus rechtlichen Gründen nicht zugemutet werden darf, aus dem Bundesgebiet auszureisen, und dass mit dem Wegfall dieses Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. [...]
26 Der Senat hat nach Aktenlage keinen Zweifel, dass die Antragstellerin jedenfalls seit ... 2020 mit ihrem deutschen Ehemann gemeinsam eine Wohnung im Gebiet der Antragsgegnerin bewohnt und dass das Paar dort eine schutzwürdige eheliche Lebensgemeinschaft führt. Im ... 2022 ist zudem die gemeinsame Tochter der Eheleute zur Welt gekommen. Sie ist deutsche Staatsangehörige (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StAG), lebt seit ihrer Geburt bei ihren Eltern und führt mit diesen eine ebenfalls schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft. Soweit ersichtlich, steht beiden Eltern das Sorgerecht für das inzwischen acht Monate alte Kind zu; jedem von ihnen obliegt zugleich die Pflicht, sich um die Pflege und Erziehung des Kindes zu kümmern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Der Ehemann der Antragstellerin ist berufstätig in nichtselbständiger Beschäftigung. Mit seinem Einkommen sichert er den Lebensunterhalt der Familie; außerdem leistet er Unterhalt für seine weiteren Kinder aus früheren Beziehungen.
27 Bei dieser Sachlage geht der Senat davon aus, dass dem Interesse der Antragstellerin, ihres Ehemanns und ihrer gemeinsamen Tochter, ihre schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet unbeeinträchtigt von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Ausländerbehörden führen zu dürfen, in der Abwägung mit dem Interesse des Gemeinwesens, den Aufenthalt der Antragstellerin im Bundesgebiet zu beenden, hohes Gewicht zukommt. [...]
28 In diesem Zusammenhang fällt ins Gewicht, dass der deutsche Ehemann der Antragstellerin seinen Wohnsitz seit langer Zeit im Bundesgebiet hat und durch seine Berufsausübung im Inland nicht nur den Lebensunterhalt seiner Familie deckt, sondern auch zum Unterhalt weiterer Angehöriger beiträgt. In dieser Situation wird man es ihm nicht abverlangen können, sich für eine noch nicht klar absehbare Zeitdauer ins Ausland zu begeben, um mit der Antragstellerin weiter zusammenleben zu können. [...]
29 Entsprechendes gilt für die Tochter der Antragstellerin. Auch ihr dürfte es nicht zumutbar sein, ihre Mutter ins Ausland zu begleiten und auf diese Weise den persönlichen Umgang mit ihrem Vater einzubüßen. [...]
30 Ebenso wenig wird man es der Tochter der Antragstellerin zumuten dürfen, zwar bei ihrem Vater im Bundesgebiet zu bleiben, darüber aber den persönlichen Umgang mit ihrer Mutter zu verlieren. [...]
31 Zu einer anderen Einschätzung der Zumutbarkeit einer zeitweiligen Trennung von Vater und Kind oder Mutter und Kind führt auch nicht der mit Schriftsatz vom 20.12.2022 gegebene Hinweis der Antragsgegnerin, dass sich der Auslandsaufenthalt der Antragstellerin (zum Zwecke der Nachholung des Visumverfahrens) durch geeignete Maßnahmen auf eine kurze Zeitdauer begrenzen lasse. Denn zur konkreten Dauer des für die Nachholung des Visumverfahrens voraussichtlich notwendigen Aufenthalts der Antragstellerin in ihrem Herkunftsland hat die Antragsgegnerin keine näheren Angaben gemacht. Hinzu kommt, dass die Dauer dieses Auslandsaufenthalts vermutlich auch von der Bereitschaft der Antragsgegnerin abhängt, Mitwirkungshandlungen in Gestalt einer Vorabzustimmung zur Visumerteilung zu erbringen. [...]
32 Die dem weiteren Aufenthalt der Antragstellerin entgegenstehenden öffentlichen Interessen dürften demgegenüber mit geringerem Gewicht zu veranschlagen sein. Dabei geht der Senat davon aus, dass dem weiteren Aufenthalt der Antragstellerin im Wesentlichen einwanderungspolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland entgegenstehen. Diese betreffen die Beachtung der Visumpflicht und des Erfordernisses, sich als drittstaatsangehörige Ausländerin im Bundesgebiet nur bei Vorliegen des erforderlichen Aufenthaltstitels, einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung aufzuhalten. [...] In diesem Zusammenhang ist aber ebenfalls zu berücksichtigen, dass nach den oben aufgezeigten verfassungs-, konventions- und unionsrechtlichen Maßstäben weder Verstöße gegen Einreise- und Aufenthaltsvorschriften noch deren nachfolgende Ahndung durch ein Strafgericht per se dazu führen, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise eines Ausländers das Interesse des Ausländers (und der Mitglieder seiner Familie) an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Im Gegenteil haben - wie gezeigt - die einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig zurückzustehen, wenn deren Durchsetzung im konkreten Einzelfall mit dem Wohl eines noch sehr kleinen Kindes nicht zu vereinbaren wäre, das mit dem betroffenen Ausländer im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob anderes zu gelten hat, wenn einem Ausländer besonders zahlreiche oder schwerwiegende Verstöße gegen Vorschriften vorzuwerfen sind, die der Wahrung der einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland dienen. Denn dies ist hier nicht anzunehmen. Vielmehr dürften sich die Verfehlungen der Antragstellerin auf ihre unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet und den mit dieser Einreise in engem Sachzusammenhang stehenden Umstand beschränken, dass sie sich hier - zum Zwecke des Ehegattennachzugs - über einen längeren Zeitraum aufgehalten hat, ohne über einen Aufenthaltstitel, eine Aufenthaltsgestattung oder Duldung zu verfügen. Das Verhalten der Antragstellerin hat das Amtsgericht ... mit rechtskräftigem Strafbefehl vom … 2021 als strafwürdige Verletzung einreise- und aufenthaltsrechtlicher Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes eingestuft. Die erfolgte Strafzumessung macht aber zugleich deutlich, dass das Gericht die Verfehlungen nicht als besonders schwerwiegend eingeschätzt hat. Denn mit der Verhängung einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen liegt die strafgerichtliche Verurteilung der Antragstellerin deutlich unter der Linie, die der Gesetzgeber in den § 19d Abs. 1 Nr. 7, § 25a Abs. 3, § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG als zwingenden Ausschlussgrund für die Erteilung bestimmter Aufenthaltserlaubnisse gezogen hat. In diesen Bestimmungen wird die angesprochene Linie in Bezug auf Delikte, die nur von Ausländern begangen werden können (und damit typischerweise die einwanderungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland betreffen), konsequent auf Geldstrafen von insgesamt mehr als 90 Tagessätzen festgelegt. Die genannten Vorschriften kommen im vorliegenden Fall zwar nicht unmittelbar zur Anwendung. Sie sind im Rahmen der systematischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in anderen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes (hier: § 25 Abs. 5 AufenthG) aber als gesetzgeberische Wertungen zu berücksichtigen, wenn es um die Gewichtung einwanderungspolitischer Belange der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Bleibeinteressen eines Ausländers geht. Damit bleibt festzuhalten, dass im vorliegenden Fall dem Interesse am weiteren Aufenthalt der Antragstellerin im Vergleich zu dem entgegenstehenden einwanderungspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland größeres Gewicht zuzumessen sein dürfte. [...]