VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 05.01.2023 - 7 K 337/21 We - asyl.net: M31724
https://www.asyl.net/rsdb/m31724
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für politische aktive Person aus dem Irak:

1. Im Irak werden Aktivist*innen und Personen, die an regierungsfeindlichen Demonstrationen teilnehmen oder offen Kritik an nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen üben, Opfer von Entführung, Folter und Tötung.

2. Der Kläger wurde - weil er in Basra Proteste gegen die Regierung und für bessere Lebensbedingungen mitorganisiert hat - Opfer von Entführung und Folter, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) zu vermuten ist, dass ihm entsprechende Verfolgungshandlungen bei Rückkehr erneut drohen würden.

3. Innerstaatlicher Schutz gemäß § 3e Abs. 1 AsylG ist für den Kläger auch nicht in der Kurdischen Autonomie Region zu erlangen, weil es für Angehörige des schiitischen Glaubens keine Bestätigung gibt, dass sie aufgenommen werden und die Aufnahme des Klägers zudem aufgrund seines politischen Engagements durch den kurdischen Sicherheitsdienst Asayish abgelehnt werden könnte.

4. Den Familienangehörigen des Klägers droht ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, weil ihnen als Familienangehörige ähnliche Schädigungshandlungen wie dem Kläger drohen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, politische Verfolgung, Sippenhaft, Basra, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Familienangehörige, Folter, Protest, Opposition, Nordirak, Al-Basra
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 3e Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Der Kläger zu 1) hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Der Kläger zu 1) gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, er habe an der Vorbereitung von Demonstrationen mitgewirkt, die meist freitags in seinem Heimatort Al Basra stattfanden. Er habe sich mit einer Gruppe von Gleichgesinnten vorab getroffen, habe gesammelte Spenden übergeben bekommen und davon Getränke und Essen für Demonstrationsteilnehmer bezahlt. Diese Versorgung habe die Gruppe mit ihm in sein Fahrzeug geladen, um sie während der Demonstration zur Verfügung zu stellen. Am Fahrzeug des Klägers zu 1) sei ein Lautsprecher montiert gewesen, über den Demonstrationsteilnehmer ihre Meinung verbreiten konnten. Der Kläger zu 1) habe auch darüber gesprochen. So habe er u. a. auch über den Lautsprecher gerufen, dass die Regierung ausgewechselt werden müsse, damit die Versorgung der Bürger mit Strom, Wasser, Schulen, Gesundheitswesen hergestellt werden könne. Wenige Tage nach einer solchen Demonstration mit Ansage des Klägers zu 1) über das Mikrofon sei er gegen Mitternacht von zwei unbekannten bewaffneten Männern in seinem Laden entführt worden. Er sei mit verdecktem Gesicht an einen unbekannten Ort verbracht und dort unter Falter zu den Hintergründen der Demonstrationen und ihrer Organisation befragt worden. Nach einer Woche sei er an einer Straße freigelassen worden, verbunden mit der Drohung, dass seiner Familie Gewalt angetan würde, sollte er weiter an Demonstrationen oder deren Organisation teilnehmen. Der Kläger zu 1) habe umgehend seine Flucht organisiert und sei mit seiner Frau und seinem Sohn, der Klägerin zu 2) und dem Kläger zu 3), etwa einen Monat nach der Entführung aus dem Irak ausgereist. [...]

Ferner werden die Angaben bestätigt durch die Erkenntnisquellen, wonach (auch in Basra) Aktivisten, regierungsfeindliche Demonstranten und Personen, die offen Kritik an nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen übten, Opfer von Entführung, Folter und Tötung wurden [...].

Dementsprechend ist das Gericht überzeugt, dass der Kläger zu 1) wegen seiner politischen Überzeugung bzw. der ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 bzw. Abs. 2 AsylG nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verfolgt wurde und ihm eine weitere Verfolgung aus diesen Gründen droht, würde er in den Irak zurückkehren. [...]

Gerade auf Grund dieses öffentlichen Engagements wurde dem Kläger zu 1) erheblicher physischer als auch psychischer Schaden zugefügt, durch Entführung, Folter und sodann auch Drohung ihm und seiner Familie gegenüber. [...]

Ob die Täter staatliche oder nichtstaatliche Akteure waren, kann dahingestellt bleiben. [...]

Aufgrund der glaubhaft nachgewiesenen Verfolgung des Klägers zu 1) greift die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, so dass zu vermuten ist, er werde erneut verfolgt, würde er in seine Heimat zurückkehren. [...]

Der Kläger zu 1) kann auch nicht auf innerstaatlichen Schutz gem. § 3e Asy!G verwiesen werden. [...]

Zwar kommt grundsätzlich inzwischen auch für arabischstämmige Iraker eine Wohnsitznahme in der Kurdischen Autonomieregion des Irak in Betracht. Dies gilt jedoch zum einen nicht für Angehörige der schiitischen Strömung des Islam, für welche es keine Bestätigung in den Erkenntnisquellen gibt, dass diese in kurdischen Gebieten aufgenommen werden. Zum anderen erscheint die dort erforderliche Sicherheitsfreigabe der Asayish [...] aufgrund der politischen Betätigung des Klägers nicht überwiegend wahrscheinlich. [...]

Die Klägerin zu 2) sowie der Kläger zu 3) haben keine eigenen Verfolgungsgründe vorgetragen. [...]

Die Voraussetzungen des Familienflüchtlingsschutzes gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich der Kläger zu 2) und 3) liegen (noch) nicht vor, weil die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger zu 1) (noch) nicht unanfechtbar geworden ist. Sobald die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes für den Kläger zu 1) aber rechtskräftig wird, haben die Kläger zu 2) und 3) einen Anspruch auf Schutz nach § 26 Abs. 1 bzw. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG. [...]

Der Hilfsantrag der Kläger zu 2) und 3) ist allerdings begründet, weil beide im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG haben. [...]

Es gibt vorliegend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass den Klägern zu 2) und 3) bei einer Rückkehr in den Irak Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG droht. [...]

Ausgehend von der Rückkehr der Familie als Einheit und der oben dargelegten Annahme, dass der Kläger zu 1) sich erneut öffentlich für Bürgerrechte engagieren würde oder ihm dies auch nur grundlos vorgeworfen werden würde, muss anhand der Erkenntnisquellen jedoch davon ausgegangen werden, dass die Kläger zu 2) und 3) als nahe Angehörige mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst gefährdet sind, erheblich geschädigt zu werden. Der Kläger zu 1) wurde für eine Woche entführt und gefoltert. Ähnliche Schädigungshandlungen sind auch gegen die Kläger zu 2) oder 3) zu erwarten und stellen einen erheblichen Verstoß gegen die Menschenwürde dar. Zwar gab die Klägerin zu 2) an, selbst (bislang) nicht bedroht worden zu sein. [...] Sollten diese Schädiger jedoch bei Rückkehr der Familie der Kläger erneut dem Kläger zu 1) einen Vorwurf politischer Betätigung machen und ihn dann nicht auffinden, ist davon auszugehen, dass sie die Klägerin zu 2) oder den Kläger zu 3) als Druckmittel gegen den Kläger zu 1) verwenden und diese entführen oder verletzen, um den Kläger zu 1) von weiterem politischem Engagement abzuhalten. Dies ergibt sich aus den Drohungen, welche die Schädiger gegenüber dem Kläger zu 1) seine Familie betreffend ausgesprochen haben, aber auch aus den Erkenntnisquellen [...].