VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 06.02.2023 - 7 K 361/21 We - asyl.net: M31719
https://www.asyl.net/rsdb/m31719
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für yezidische Frau aus dem Irak:

1. Eine junge, alleinstehende yezidische Frau wäre in der Provinz Ninive (auch: Ninawa) des Irak überwiegend wahrscheinlich nicht in der Lage, ihre elementaren Bedürfnisse nach Unterkunft, Hygiene und Nahrung über einen längeren Zeitraum zu befriedigen. 

2. Da nur noch ihr Bruder als einziges Familienmitglied in ihrem Heimatdorf lebt und dieser unter den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen sich selbst, sowie seine Ehefrau und drei Kinder versorgen muss, ist nicht davon auszugehen, dass er in der Lage wäre, auch die Klägerin zu versorgen.

3. Eine Wohnsitznahme in arabischen Gebieten ist der Klägerin als Yezidin/Kurdin nicht zumutbar. Eine Wohnsitznahme in der Kurdischen Autonomieregion ist für eine alleinstehende Frau ebenso unzumutbar. Sie könnte nur in einem Flüchtlingscamp Zuflucht suchen, wo nicht gesichert ist, dass ihre existenziellen Bedarfe gesichert sind und sie als Frau schutzlos wäre.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Yeziden, Irak, Frauen, alleinstehende Frauen, Ninive, Ninawa, Familienangehörige, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK. [...]

Die konkret in den Blick zu nehmenden Lebensbedingungen im Gouvernement Ninawa bzw. in der Kurdischen Autonomieregion des Irak rechtfertigen im Einzelfall der Klägerin kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit die Feststellung einer hohen Gefahr unmenschlicher Lebensbedingungen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Es ist nach den Erkenntnissen zur Lebenssituation der Klägerin und den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin als alleinstehende junge Frau ihre elementaren Bedürfnisse nach Unterkunft, Hygiene und Nahrung nicht über einen längeren Zeitraum befriedigen können wird, so dass davon auszugehen ist, dass es ihr nicht gelingen würde, einen unmenschlichen oder erniedrigenden Zustand zu vermeiden.

Die Klägerin gab an, keinen Halt mehr in der jesidischen Gemeinschaft zu haben, da ihre Kernfamilie in Deutschland lebt. Nur einer ihrer Brüder lebe noch in dem jesidischen Heimatdorf ... habe dort aber große Schwierigkeiten sich, seine Ehefrau und seine drei Kinder zu versorgen, da ihm nur alle paar Tage eine kurzfristige Gelegenheitsarbeit auf dem Bau angeboten werde. Die Klägerin könne sich nicht vorstellen, wie er sie selbst zusätzlich versorgen solle, zumal sie als Frau nicht arbeiten dürfe.

Unter diesen Umständen kann das Gericht nicht davon ausgehen, die Klägerin werde in ... ausreichend hinsichtlich Wohnung, Ernährung und Hygiene versorgt. [...]

Eine Wohnsitznahme in arabischen Gebieten des Irak ist ihr als Kurdin nicht zumutbar (vgl. AA 28.10.2022, S. 16; BFA 22.08.2022, S. 170). Eine Wohnsitznahme in Kurdischen Gebieten erscheint aber für eine alleinstehende junge Frau ebenso unzumutbar, zumal die Klägerin dort nur in einem Flüchtlingscamp Zuflucht suchen kann, wo nicht gesichert ist, dass ihre existenziellen Bedarfe gesichert sind (vgl. VG Münster, Urteil vom 30.03.2022, 6 K 49/20.A, juris) und wo sie gerade als Frau schutzlos wäre.

Unabhängig vom Wohn- bzw. Zufluchtsort wäre die Klägerin als junge alleinstehende Frau erheblich vulnerabler den für sie ungünstigen gesellschaftlichen Strukturen des Irak ausgesetzt. [...] Im Ergebnis hat eine alleinstehende Frau ziemlich schlechte Chancen, ihren Lebensunterhalt allein zu verdienen [...]. Frauen sind darüber hinaus im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt [...]. Die Stellung der Frau hat sich teilweise deutlich verschlechtert. [...]